Die COVID-19-Pandemie ist noch im Gange, doch die Folgen für den Arbeitsmarkt in Deutschland sind schon jetzt deutlich zu spüren. Die Arbeitslosenzahl steigt: Im Juni waren 2,853 Millionen Menschen ohne Job, 40.000 mehr als noch im Mai und 637.000 mehr als 2019. Auch die Kurzarbeit erreicht Rekordwert. Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger geht ebenfalls nach oben. Im Juni lag sie nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit bei 4,076 Millionen. Das seien 152.000 mehr als im Juni vergangenen Jahres. Die Entwicklung hat auch Folgen für die Zuwanderung von Arbeitsmigranten aus den Ländern des Westbalkans.
Seit 2016 haben Staatsbürger Albaniens, Bosnien-Herzegowinas, des Kosovo, Nordmazedoniens, Montenegros und Serbiens im Rahmen der sogenannten Westbalkan-Regelung erleichterten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Diese Ausnahmegenehmigung ermöglicht es den Menschen aus den genannten Ländern, in der Bundesrepublik für jede Beschäftigung eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Auch ohne formale berufliche Qualifikationen.
Eine der Voraussetzungen dabei ist, dass die Person ein verbindliches Arbeitsplatzangebot von einem deutschen Arbeitgeber vorlegen kann, Tätigkeiten als Leiharbeiter ausgeschlossen. Zudem muss ferner eine Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit vorliegen, die im Rahmen der sogenannten "Vorrangprüfung" feststellt, dass es für die jeweilige Tätigkeit keine inländischen oder aus der EU stammenden Arbeitsuchenden gibt. Auch darf die Person vorher keine Sozialleistungen hierzulande bezogen haben. Doch die Westbalkan-Regelung läuft Ende 2020 aus.
Union will Obergrenze von 15.000 Menschen pro Jahr
Bereits seit Monaten soll es in der Großen Koalition Diskussionen über die Fortsetzung der Regelung geben. Laut einem Medienbericht soll sie weiterhin bestehen, doch mit einer Obergrenze versehen werden. Laut der Welt am Sonntag strebt die Union an, die Zuwanderung von Arbeitskräften aus den genannten Westbalkan-Staaten auf zwei weitere Jahre zu verlängern und auf höchstens 15.000 Menschen pro Jahr zu senken. Der innenpolitische Unionssprecher im Bundestag Mathias Middelberg sagte der Zeitung zur Begründung:
Wir befinden uns in einem massiven wirtschaftlichen Abschwung und haben jetzt schon 600.000 Arbeitslose mehr als vor einem Jahr. Die Westbalkan-Regelung in einer solchen Situation einfach unverändert weiterlaufen zu lassen, ist keine Option.
Bereits im März erklärte der CDU-Politiker, dass es keinen Sinn ergebe, "den Arbeitsmarkt über die Westbalkan-Regelung gerade für Geringqualifizierte weiter offenzuhalten, wenn wir bereits eine so hohe Zahl an Arbeitslosen aus diesem Bereich haben". Aus dem SPD-geführten Arbeitsministerium hieß es nun gegenüber der Zeitung, dass auch ohne Deckelung eine bedarfsgerechte Steuerung der Zuwanderung möglich sei. Dabei wurde auf die Vorrangprüfung verwiesen. FDP, Grüne und Wirtschaftsvertreter hatten sich stets geschlossen für die Fortsetzung der Regelung ausgesprochen.
Im April wurde eine Studie veröffentlicht, die das Arbeitsministerium in Auftrag gegeben hatte. Sie zeigt, dass unter den 36.050 untersuchten Migranten, die 2016 und 2017 im Rahmen der Westbalkan-Regelung nach Deutschland gekommen waren, 58 Prozent als Fachkraft oder Spezialist arbeiten. Im Schnitt verdienten sie brutto zwölf Euro pro Stunde. Das sei ein höherer Anteil als in vergleichbaren Migrantengruppen. Viele von ihnen verfügten nicht über eine Berufsausbildung, jedoch über "informelle Qualifikationen". Zudem traten die befürchteten Nebenwirkungen wie Einwanderung in die Sozialsysteme laut Bericht nicht ein. Nur etwa ein Prozent der Beschäftigten habe zwischenzeitlich staatliche Leistungen bezogen.
Fachkräfteeinwanderungsgesetz soll Hochqualifizierten den Zugang erleichtern
Allein im vergangenen Jahr sollen dem Bericht der Welt am Sonntag zufolge 27.000 Arbeitskräfte auf diese Weise nach Deutschland gekommen sein. In den Ländern des Westbalkans ist die verstärkte Abwanderung schon seit Jahren zu beobachten. Allein in der Baubranche in Deutschland sollen seit 2016 etwa 40.000 Arbeiter aus Serbien, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro oder dem Kosovo beschäftigt sein.
Doch seit dem 1. März dieses Jahres ist das sogenannte Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft getreten, das die Zuwanderung und Anwerbung qualifizierter Fachkräfte aus dem Ausland erleichtern soll. Das Gesetz zielt besonders auf die IT-Branche und den Gesundheits- und Pflegebereich. Auch in den jeweiligen Ländern geht man davon aus, dass die wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie ebenfalls zu einer höheren Arbeitslosenquote führen könnten. Experten etwa in Bosnien-Herzegowina erwarten deshalb eine Fortsetzung der ohnehin anhaltenden Abwanderung gebildeten und qualifizierten Personals.
Allein im vergangenen Jahr soll die deutsche Botschaft in Sarajevo 17.532 Visa ausgestellt haben. Dies waren 3.140 bzw. 22 Prozent mehr als im Jahr zuvor. In den vergangenen Jahren sollen über 170.000 Menschen das ehemalige Bürgerkriegsland verlassen haben. Die meisten sollen nach Deutschland oder Österreich gegangen sein.
Doch in allen genannten Ländern des Westbalkans ist die Politik nicht gerade bemüht, die Abwanderung zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen. Vetternwirtschaft, Korruption und hohe Arbeitslosigkeit prägen die Staaten. Die wenigen zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze hängen stark von der Mitgliedschaft in einer, meist regierenden Partei ab. Schon jetzt sind sich die Experten einig, dass der Braindrain verheerende Folgen für die gesamte Region haben wird.
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