RT hat mit dem in Aleppo geborenen, in Rom lebenden Journalisten und Fernsehmoderator Naman Tarcha gesprochen. Tarcha ist Experte im Bereich Massenmedien und arabischer Kultur. Seine Artikel und Reportagen über den Nahen Osten sowie über Geopolitik, Terrorismus und Einwanderung erscheinen in arabischen und italienischen Medien. Tarcha ist zudem Co-Autor des 2009 erschienenen Buches "Arabische Medien und Kultur im Mittelmeerraum" sowie Gründer und Chefredakteur von ornina.org, einem Online-Kunst- und Unterhaltungsmagazin auf Arabisch.
RT Deutsch: Wer kümmert sich um den Wiederaufbau Syriens? Wer beteiligt sich daran?
Naman Tarcha: Mehrere außereuropäische Länder sind am Wiederaufbau beteiligt. An vorderster Front stehen Länder, die das syrische Volk unterstützt haben: China, der Iran, Indien und vor allem Russland. Sie sind bei der syrischen Regierung bevorzugt.
Außerdem: Unter Messen und Veranstaltungen ergeben sich mehrere Gelegenheiten, um Investoren anzuziehen und Unternehmen aus der ganzen Welt einzubeziehen.
Und die europäischen Länder? Und die USA?
Der Westen versucht gerade mittels Sanktionen, die Wiedergeburt des Landes zu verhindern. Die Europäer vergießen über den Syrern Krokodilstränen, ließen das Land jedoch aushungern und machten ihm das Leben unmöglich.
Die "virtuelle" amerikanische Botschaft in Damaskus – virtuell, denn sie ist seit zehn Jahren geschlossen – hat auf lächerliche Weise Drohungen gegen Unternehmen und Einzelpersonen veröffentlicht, die an der Internationalen Messe von Damaskus für den Wiederaufbau Syriens teilgenommen haben. Eine Messe, die großen Erfolg und Beteiligung erlebt hat.
Zudem gibt es die US-amerikanische Besetzung syrischer Ölfelder ...
Das ist reiner Öldiebstahl und gilt als Kriegsverbrechen. In der Tat dient die amerikanische Besetzung der Ölfelder im Nordosten Syriens dazu, ihre Rückgabe an den syrischen Staat zu verhindern, Syrien in die Knie zu zwingen und einen Failed State zu erschaffen.
Welche prospektiven Entwicklungen sehen Sie für den Nordosten Syriens, Stichwort: Rojava?
Rojava ist ein Gebiet, das es nicht gibt. Im Nordosten Syriens leben sowohl Kurden als auch Syrer, Assyrer, Armenier, Muslime und Christen. Kurden stellen weniger als 30 Prozent der Bevölkerung. Es waren "Fake News" zu behaupten, dass Nordostsyrien kurdisch sei.
Während all dieser Jahre mussten Syrer die Demütigung erleiden, in ihrem Land feindliche Flaggen wehen zu sehen – aber sie werden nicht lange stillhalten.
Die Verhandlungen, unter russischer Vermittlung, zwischen den kurdischen Milizen und der syrischen Regierung gehen weiter, und der Einsatz der syrischen Armee an der syrisch-türkischen Grenze hat das Schlimmste verhindert.
Aber die Amerikaner werden sich abfinden müssen. Friedlich oder wegen des Widerstands, wie es im Irak geschehen ist, werden die Amerikaner gehen müssen, weil sie von einer feindlichen Bevölkerung umgeben sind und keine Besetzung für immer andauert.
Wie reagieren Syrer auf westliche Sanktionen?
Die jüngste Neuigkeit, die für die westliche Vorstellungskraft unglaublich erscheint, ist die Einweihung eines pharmazeutischen Werks in Adra bei Damaskus. Dort werden Krebsmedikamente produziert, die der nationalen Nachfrage entsprechen und deren Einfuhr nach Syrien das "zivile" Europa mittels Sanktionen verbietet.
Viele Frauen, die ihren Arbeitsplatz verloren hatten, haben angefangen, ihre eigenen Produkte herzustellen und Lebensmittel, Textilien, aber auch kreative Haushaltsprodukte weiterzuverkaufen.
Ein Beispiel dafür ist Antonietta Bahar. Sie fing mit kreativen Künsten wie der Glasmalerei an und produzierte Geschenke und Andenken für Partys, die auf Messen und Flohmärkten unter Bombenhagel weiterverkauft wurden. Danach hat sie sich zu einer Allround-Künstlerin weiterentwickelt und ist heute mit Ausstellungen auf nationaler Ebene sehr bekannt, während Anfragen und Bestellungen zu ihren Werken aus der ganzen Welt eintreffen.
Langsam kehren vertriebene Familien nach Syrien zurück, und die Städte, die man als "zerstörte Geisterstädte" bezeichnete, sind lebendiger denn je.
Wie wird der Zivilbevölkerung geholfen?
Die Zivilgesellschaft, in der öffentliche und private Vereine und Genossenschaften aufblühen, hat mit Kursen und Workshops enorme Arbeit geleistet, um jungen Menschen mit Schwierigkeiten beim Eintritt in den Arbeitsmarkt in allen Sektoren – im Hotel- und Tourismusbereich, aber auch im Handwerk und in der Wirtschaft – zu helfen. Die während des Krieges entstandenen Handwerksmärkte für Frauen sind in allen Städten zu einem Muss geworden.
Das "Franciscan Care Center Art-Psychology" in Aleppo, unter der Leitung von P. Firas Loutfi Istein, ist ein einzigartiges Zentrum, das sich für die Heilung syrischer Kinder von Kriegstraumata einsetzt. Hierbei gehen die Kinder sportlichen, künstlerischen und spielerischen Aktivitäten nach.
Jeder Krieg verändert den Menschen und bringt bisweilen auch die großmütigen Eigenschaften eines Volkes zum Vorschein. Was mich erstaunt, ist, wie sensibel die Syrer gegenüber Bürgern mit Behinderungen geworden sind. Es gibt Arbeitsprojekte für Kinder mit Downsyndrom.
In Damaskus beispielsweise wurde das erste Café innerhalb der arabischen Welt eröffnet, das ausschließlich von Männern mit Downsyndrom betrieben wird.
Ein außergewöhnliches Projekt von Vivianne Moubayed, einer Freundin von mir, ist ein Kindergarten mit modernster Ausstattung und einem Team für gehörlose Kinder in Aleppo.
Zurück zum Wiederaufbau. Bitte geben Sie uns einen Überblick.
In allen Städten – von Damaskus über Homs nach Aleppo – finden Restaurierungs- und Wiederaufbaumaßnahmen statt.
Von der archäologischen Stätte Palmyras über die Kirche "Um Alzunnar" in Homs und die Umayyaden-Moschee aus dem 13. Jahrhundert mit ihrem seldschukischen Minarett aus dem Jahr 1090, die in Aleppo zerstört wurde.
Der Suq "Al Sakatiyeh" wurde restauriert und ist der Öffentlichkeit wieder zugänglich. Er ist der längste abgedeckte Markt im Nahen Osten. Insgesamt handelt es sich um 37 Märkte mit einer Gesamtlänge von sieben Kilometern verteilt auf 160.000 Quadratmetern.
Der Suq Aleppos, die Markthalle der Stadt, die 500 Kunsthandwerksläden beherbergte, befindet sich ebenfalls in einer fortgeschrittenen Restaurierungsphase.
Syrien war ebenfalls bekannt für seine Kirchen und Museen. Gibt es auch da Fortschritte?
Die beschädigte Holzdecke der maronitisch-katholischen Sankt-Elias-Kathedrale im historischen Zentrum Aleppos wird derzeit renoviert.
Das Nationalmuseum Aleppos hat wieder geöffnet. Während der Restaurierung des beschädigten Gebäudes sind viele archäologische Funde gerettet und wiederhergestellt worden. Das Bodenmosaik einer alten Kirche aus dem späten 5. Jahrhundert, 347 Zentimeter lang und 273 Zentimeter breit – das von Terroristengruppen gestohlen und nach Kanada geschmuggelt wurde –, wird nun im syrischen Nationalmuseum in Damaskus aufbewahrt.
Unsere Leitmedien sprachen von der "Geisterstadt" Aleppo. Ihre Bilder zeigen stattdessen Konzerte und Feste …
Musik ist Leben, die Syrer leben, und jeden Tag zeigen sie der Welt, dass sie am Leben sind!
Im November fand die Orgelwoche unter der Leitung des Chefdirigenten des Syrischen Symphonieorchesters, Missak Baghboudarian, in verschiedenen Kirchen statt. In Zusammenarbeit mit dem Operntheater hat das syrische Symphonieorchester sein Programm nie unterbrochen.
Klassische Konzerte, syrische Unterhaltungsmusik, Theater- und Tanzaufführungen sowie Sommer- und Winterfestivals sind stets ausverkauft.
Für ein Land, das gerade erst auf einen verheerenden Krieg zurückblicken kann, sind diese Ereignisse vorbildlich organisiert.
Am schönsten aber ist die außergewöhnliche Beteiligung eines Volkes, das wieder zum Leben erweckt.
Danke für das Gespräch!
(Das Interview führte Daniele Pozzati)