Bereits bei der Ankündigung des Abzugs von US-Truppen aus der Region Anfang Oktober warnten Offizielle verschiedener Länder vor der Gefahr, dass bei einer türkischen Invasion tausende IS-Mitglieder aus den von Kurden bewachten Gefängnissen entkommen könnten.
Mindestens 10.000 inhaftierte Kämpfer des sogenannten Islamische Staats (IS) befinden sich in mehreren Gefängnissen im Nordosten Syriens. Darüber hinaus gibt es mehr als 100.000 Familienangehörige von IS-Kämpfern in Lagern in der Region. Auch gab es bereits bei früheren türkischen Offensiven in Syrien die Warnung, dass die Türkei teils radikale Dschihadisten rekrutiert – für ihren Kampf gegen die Kurden.
Am vergangenen Freitag nun gab es konkrete Berichte, wonach fünf IS-Angehörige aus einem Gefängnis entkommen sein sollen. Die angegriffenen kurdischen Kräfte hätten demnach ihren Fokus auf die Selbstverteidigung legen müssen, so dass die Bewachung der IS-Häftlinge nicht mehr voll gewährleistet sei.
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Anders als die von Donald Trump per Twitter verlautbarte Vermutung war es in diesem Fall eher kein Ruf nach Aufmerksamkeit der syrischen Kurden, welche die Freilassung von Dschihadisten motiviert hat. Vielmehr, so ein Bericht in Foreign Policy unter Berufung auf zwei US-Beamte, handele es sich um die Taktik der von der Türkei unterstützten Stellvertreter, die in Syrien kämpfen.
So begehen die einst seitens westlicher Journalisten als "gemäßigte" oder "moderate" Rebellen beschriebenen Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA), die noch im Jahr 2013 von finanzieller und militärischer Unterstützung seitens der USA profitierten, nicht nur vorsätzlich Morde an unbewaffneten Zivilisten sowie Angriffe auch auf Posten der US-Armee, sondern befreien auch Dschihadisten des IS.
Auch der Mord an der kurdischen Politikerin Hevrin Khalaf, die unbewaffnet im Auto unterwegs war und auf offener Straße erschossen wurde, soll auf das Konto der aus Ankara finanzierten und ausgerüsteten FSA gehen.
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Bereits seit längerer Zeit haben sich FSA-Angehörige als nicht ganz so "moderat" erwiesen, wie sie im Westen oft beschrieben werden. Die CIA hatte im Jahr 2014 versucht, FSA-Angehörige zu rekrutieren, um sie im Kampf gegen den IS einzuspannen, jedoch waren viele FSA Angehörige zur al-Nusra-Front übergelaufen oder dieser zeitgleich treu, so dass sich die FSA als weniger hilfreich im Kampf gegen den IS erwies als die SDF.
Im September 2013 berichteteNBC News unter Berufung auf einen hohen Militärbeamten, das Pentagon gehe davon aus, dass Islamisten mehr als die Hälfte der Rebellen ausmachen, die gegen Assad kämpfen – "und die Zahl wächst von Tag zu Tag". Außerdem machte sich in Washington die Befürchtung breit, dass die extremistischen Islamisten aus dem Krieg in Syrien als Sieger hervorgehen könnten – mit der Hilfe aus Washington.
Einige der von der Türkei unterstützten FSA-Kämpfer sollen bei der türkischen Offensive auf Afrin im Jahr 2018 Kriegsverbrechen an Kurden verübt haben. Und bereits im Februar 2018, kurz nach Beginn des türkischen Einmarsches unter dem Titel "Operation Olivenzweig", gab es Medienberichte unter Berufung auf IS-Aussteiger, wonach die Türkei vorsätzlich IS-Kämpfer rekrutiert habe, um die Afrin-Offensive gegen Kurden durchzuführen.
Bei der aktuellen Offensive sollen ähnliche Taktiken zum Einsatz kommen. Am Sonntag sollen laut kurdischen Quellen 800 IS-Familienangehörige aus dem Ain Issa Lager entkommen sein, zusätzlich zu fünf weiteren Dschihadisten, die bereits am Freitag entkommen waren. Und eben dies sei die Intention der von der Türkei unterstützten Rebellen.
Dabei sind die syrischen Lager für die Tausenden von IS-Anhängern wahre Brutstätten des Extremismus, in denen sich viele Insassen weiter radikalisieren. Einige sprechen ganz offen ihre Erwartung aus, dass Erdoğan sie dort rausholt. Auch dort sollen sich ungefähr 2.000 ausländische IS-Angehörige befinden, von denen einige bereits entkommen sind.
Während die türkische Regierung behauptet, dass es kurdische "Terroristen" der PKK/YPG gewesen seien, die in Tall Abyad vorsätzlich Kämpfer aus dem IS-Camp Ain Issa freigelassen haben, um Chaos in der umkämpften Region zu stiften, gab ein US-Regierungsangehöriger an, dass die SDF vielmehr versucht hatten, angesichts der türkischen Kampagne Gefangene in andere Haftanstalten zu verlegen. Und eben jene Gefängnisse, aus denen IS-Häftlinge schließlich entkommen sind, konnten laut SDF nicht mehr bewacht werden, weil sie von Kräften eingenommen wurden, die von der Türkei unterstützt werden.
Unbeeindruckt von dieser Kritik seitens westlicher und anderer Regierungen an der derzeitigen türkischen Offensive in Syrien, zeigt der türkische Präsident immer offener seine Unterstützung jener Kämpfer, welche er als "Armee Mohammeds" bezeichnet: "Ich küsse die Stirn der Helden der Armee Mohammeds, die an der Operation 'Friedensquelle' teilnehmen", twitterte er jüngst.
Bouthaina Shaaban, Beraterin des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, warf der Türkei vor, für die Erstarkung des IS in Syrien verantwortlich zu sein. Von Beginn an habe Ankara es Terroristen erlaubt, über die Grenze zu kommen und den Krieg gegen das syrische Volk zu führen.
Aber die größte Streitkraft, die jetzt für die Türkei kämpft, sind die Dschabhat an-Nusra. Also werden die Terroristen von der Türkei angeführt, um einen Teil des syrischen Landes zu besetzen", so Shaaban.
Die Türkei sei eine Besatzungsmacht, die nicht auf Einladung der syrischen Regierung im Land sei und Terroristen schütze. Shaaban sprach auch eine Warnung in Richtung Ankara aus und erinnerte daran, dass die syrische Geschichte zeige, dass Besatzern nicht vergeben werde:
Über 10.000 Jahre lang wurden viele Eindringlinge in unserem Land begraben. Wir, die Syrer, bleiben die Herren des Landes.
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