von Dennis Simon
Die Russische Föderation, so die Studie des "Russian International Affairs Council", habe gezeigt, dass es ein unabdingbarer Partner im Kampf gegen den Terrorismus sei. Dies sei eine mögliche Grundlage für eine Verbesserung der Beziehungen zu den westlichen Staaten. Die Möglichkeiten der russisch-westlichen Zusammenarbeit seien im Nahen Osten vielversprechender als in der Ukraine, wo es, angetrieben durch interne Entwicklungen, zu einem Frontalzusammenstoß westlicher und russischer Interessen gekommen sei.
Die Entscheidung Moskaus, sich dem Nahen Osten zuzuwenden, die in der Entscheidung mündete, in den Syrien-Konflikt einzugreifen (auf Bitten der dortigen Regierung), interpretieren die Autoren nicht als einen im Voraus durchdachten Schritt, sondern betonten, dass es sich um eine Frustreaktion auf die Bemühungen des Westens handelte, Russland aus dem europäischen Sicherheitssystem auszuschließen.
Die neuere Forschung zur russischen Nahost-Strategie zusammenfassend, machen die Autoren eine "Regionalisierung" der russischen Politik im Nahen Osten aus, die auf drei Hauptmerkmalen beruhe:
1) Der russische Einfluss in der Region erschließe neue Gebiete und äußere sich zudem in neuen Formen.
2) Statt die russische Außenpolitik vor allem auch im Zusammenhang mit den Beziehungen Moskaus zu den westlichen Staaten zu sehen, setze sich zunehmend ein Ansatz durch, der den Nahen Osten selbst als Region in den Mittelpunkt stellt.
3) Bei Beziehungen mit den Akteuren im Nahen Osten lege Russland mehr Gewicht auf die eigenen Interessen, was impliziere, dass Russland nunmehr tatsächlich an Bedeutung gewonnen hat.
Im Gegensatz zu anderen Formen der Regionalisierung handele sich es hier jedoch nicht um eine Erscheinung, die zusammen mit einer Integration der Staaten in der Region auftrete. Im Gegenteil: Der Nahe Osten sei weiterhin durch sehr starke Gegensätze und ständig wechselnde Allianzen gekennzeichnet.
Den Autoren zufolge beruhe die Ausdehnung des Spielraums der russischen Außenpolitik im Nahen Osten auch auf dem Verhalten der US-Amerikaner, das aufgrund seiner Inkonsistenz sogar treue Verbündete abgeschreckt habe. Die Staaten im Nahen Osten seien trotz divergierender Interessen darin einig, ein System des gegenseitigen Ausgleichs wiederherzustellen, in dem Russland als Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten auftreten könne. Es handele sich hier also um das Wiederaufleben der traditionellen Großmachtrivalität, mit der die Akteure im Nahen Osten bereits seit langer Zeit vertraut sind.
Russlands Syrien-Einsatz habe gezeigt, dass Russland bereit ist, seinen Partnern in Not auch militärisch beizustehen. Dabei koste der russische Militäreinsatz deutlich weniger als der US-amerikanische. Zudem hätten die russischen Militärstützpunkte in der Region (wie bereits die sowjetischen) vor allem eine politische Bedeutung statt einer militärischen; die verstärkte russische Präsenz deute keineswegs auf eine Bereitschaft hin, einen militärischen Konflikt mit dem Westen aufnehmen zu wollen.
Im Konflikt habe Russland gezeigt, dass es schnell Spezialeinsatzkräfte und Flugzeugverbände transportieren könne, um in Kampfgebiete einzugreifen und das Gleichgewicht zu verschieben, ohne groß angelegte Landoperationen mit regulären Streitkräften durchführen zu müssen. Zudem habe Russland Syrien über lange Zeit mit militärischer Ausrüstung auf dem Seeweg versorgen und die syrische Armee ausbilden können. Moskau habe beweisen, dass es genug militärisches Potenzial habe, um seine Partnern in Notsituation auszuhelfen.
Eine Reihe von Staaten in der Region greife zunehmend auch bei der Diversifizierung ihrer Militärausrüstung auf russische Produkte zu. Mittlerweile hätten mehr als zehn Staaten in der Region russische Waffensysteme: Algerien, Syrien, der Irak, Ägypten, Libyen, Bahrain, Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar und die Republik Sudan. Russland exportiere vor allem Flugzeuge und Waffensysteme für Landstreitkräfte.
Im Gegensatz zur Geopolitik und zum Waffenhandel gehöre der Nahe Osten nicht zu den wichtigsten Wirtschaftspartnern Russlands. Russland exportiere insgesamt gerade einmal weniger als acht Prozent seines Exportvolumens in die Staaten des Nahen Ostens, die Türkei und der Iran eingeschlossen. Dennoch verfüge Russland in der Region auch über wirtschaftliche Einflussmöglichkeiten über den Erdöl-, Erdgas- und Lebensmittelhandel sowie Nuklearenergietechnologie. Russische Firmen betätigen sich bei der Förderung fossiler Energieträger im Nahen Osten. Viele Staaten seien auf russische Lebensmittelexporte, vor allem Weizen, angewiesen.
Ein weiteres Mittel, durch das die russische Außenpolitik auf die Akteure im Nahen Osten Einfluss nehme, sei die Teilnahme an den Verhandlungen zur Konfliktlösung. Beispielhaft dafür nennen die Autoren das Astana-Format, das die Gründung von Deeskalationszonen ermöglicht habe, sowie die russische Vermittlung im innersyrischen Dialog. Diese Aktivitäten riefen jedoch auch Kritik hervor.
Russland habe derzeit, im Gegensatz zur Sowjetunion, keine Verbündeten im Nahen Osten, und seine Außenpolitik sei nicht ideologieaffin. Moskau habe stattdessen einen rasch zunehmenden Kreis von staatlichen und nichtstaatlichen Partnern. Im Nahen Osten sei Taktik wichtiger als Strategie, und Allianzen seien nicht langlebig, so die Autoren. In Bezug auf Syrien sei klar, dass die Türkei und der Iran beide gleichzeitig versuchen, ihren Einfluss in Syrien auch nach dem Ende des Konflikts aufrechtzuerhalten. Das führe dazu, dass entweder Widersprüche zwischen ihnen oder mit arabischen Staaten entstehen.
Mit der zunehmenden Stabilität der syrischen Regierung in Damaskus sei es unvermeidlich, dass vermehrt die divergierenden Interessen der Staaten des Astana-Formates zutage treten. Ein Beispiel hierfür sei der Interessenkonflikt in Nordostsyrien zwischen der Türkei, die auf eine Pufferzone zu den kurdischen Kräften besteht, und Russland, das diese Territorien gerne in den Händen der syrischen Armee sehen würde und zudem auf eine Einigung zwischen den kurdischen Kräften und der syrischen Regierung drängt. Auch zwischen dem Iran und Moskau gebe es einige Interessenkonflikte.
Die Autoren ziehen das Fazit, dass Russland nicht alle Ziele erreichen konnte, die es sich bei seinen Aktivitäten im Nahen Osten gesetzt hatte. Der Westen nehme Russland weiterhin als lästigen Rivalen wahr. Dennoch habe es der Pragmatismus Moskaus ermöglicht, Vorteile aus der Situation im Nahen Osten zu ziehen. Es gebe keine Gründe dafür, die russischen Aktivitäten zurückzufahren.