von Karin Leukefeld, Damaskus/Homs/Aleppo
„Gut, dass die Amerikaner ihren Abzug aus Syrien angekündigt haben.“ Die Antwort von Mazen A., einem pensionierten Zahnarzt in Damaskus, kommt prompt. „Aber machen wir uns doch nichts vor. Sie werden im Irak bleiben. Und ihre Jets können in fünf Minuten wieder in Syrien sein.“
Nach acht Jahren Krieg haben die Syrer keine Illusionen. Ihr Land ist zerstört, ihre gut ausgebildete Jugend fort, Sanktionen knebeln den Alltag, für den Wiederaufbau fehlt es an Geld. Dass die US-Truppen, die östlich des Euphrat und im Dreiländereck Syrien, Irak, Jordanien völkerrechtswidrig 21 Militärbasen auf syrischem Territorium errichtet haben, nun abziehen wollen, wird zwar begrüßt. Doch der Alltag in den meisten Teilen des Landes wird nicht wirklich davon berührt. Im Gespräch mit der Autorin Anfang Januar 2019 sagt ein hochrangiger Militär in Damaskus: „Wir gehen nur von dem aus, was wir vor Ort haben. Bisher gibt es nur Worte.“ Auf die Frage, ob sich die Armee darauf vorbereite, den Euphrat zu überqueren, sobald die Amerikaner abzögen, kommt die Antwort ohne zu zögern: „Natürlich.“
Für Tausende Soldaten und Offiziere spielt der angekündigte US-Truppenabzug keine vorrangige Rolle mehr. Nach acht Jahren Krieg erhielten sie zu Beginn des neuen Jahres den Marschbefehl nach Hause, zu ihren Familien. Die Gesichter der Soldaten vor den Toren militärischer Anlagen strahlen. Die Uniform wird gegen Zivilkleidung ausgetauscht, Bonbons werden verteilt und Pläne geschmiedet, was man nun mit dem neuen zivilen Leben anfangen wird. „Der Krieg ist vorbei“, sagt der General, der selber an allen Fronten gedient hat. „Die jungen Männer werden sich ausschlafen können, eine Familie gründen, einen Beruf ergreifen, ihr Leben wieder neu aufbauen.“
Und was ist mit den Spuren, die der Krieg bei Soldaten und Offizieren hinterlassen hat? Wie werden sie Verletzungen verarbeiten, den Verlust von Freunden, die schrecklichen Dinge, die sie gesehen haben? Nach einem Moment des Zögerns zieht sich ein breites Lächeln über das Gesicht des Offiziers: „Gott hat uns Menschen ein großes Geschenk gemacht“, sagt er. „Wir können vergessen.“ Die Schrecken des Krieges würden in Zukunft von Freude, Sicherheit, Aufbruch und hoffentlich guten Erfahrungen überdeckt, das werde allen Syrern helfen.
So sehr sich die Familien und Freunde über die Rückkehr ihre Väter, Ehemänner, Brüder, Söhne und Freunde freuen, so sehr drücken die täglichen Sorgen, die der zurückgewonnene Alltag in Syrien mit sich bringt. Die Preise haben sich verzehnfacht, das syrische Pfund hat an Wert verloren. Mit seinem Lohn von 50.000 Syrischen Pfund (etwa 100 Euro) im Monat könne er seine Familie nicht ernähren, rechnet Hanan vor, der in einem Hotel in Damaskus arbeitet. „Wir sind sechs Personen und brauchen 150.000 Pfund, um einen Monat essen zu können, Strom und Wasser, Gas zum Kochen und Heizöl zum Heizen kaufen zu können.“
Nach seinem Dienst im Hotel verkauft er an einem Straßenstand Socken, Handschuhe oder Schirme, wenn es nach Regen aussieht. Der Familie gehe es dennoch einigermaßen gut, weil der Sohn täglich sechs Stunden lang Geflügel vom Schlachthof zu Supermärkten ausfährt. „Er verdient fast das Dreifache von mir, richtig gut. Darum müssen wir nicht hungern.“ Doch Fleisch gehöre schon lange nicht mehr zum Speiseplan, sagt Hanan. Nur drei Mal im Monat könnten sie sich Geflügel leisten. Klagen will er nicht, Arbeiter in anderen Hotels erhielten meist viel weniger Lohn als er.
EU-Strafmaßnahmen statt Hilfe für wirtschaftlichen Wiederaufbau
Der Staat beseitigt den Kriegsschutt, übernimmt die Rekonstruktion von Straßen und Brücken und stellt die Strom- und Wasserversorgung wieder her. Die einstige Wirtschaftsmetropole Aleppo ist voller Baustellen, mit Hilfe von Sonnenkollektoren wurde an Plätzen und Straßen die öffentliche Stromversorgung wieder instandgesetzt. Auf Initiative der Agha-Khan-Stiftung wird ein Teil der Altstadt restauriert, doch die UNESCO kann kein Geld für weitergehende Arbeiten an dem Weltkulturerbe bereitstellen, weil die Geberländer sich weigern.
Schwierig ist das Leben für Familien, deren Ernährer fehlt oder arbeitslos ist. Witwen und alte Menschen sind auf Hilfe angewiesen. Die Sanktionen der Europäischen Union, die „einseitigen Strafmaßnahmen“ gegen Syrien treffen jeden Einzelnen. Die Nothilfe von UNO und vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz sei zurückgegangen, erklärt Schwester Bridget, die seit rund 30 Jahren in Syrien im Orden der Salesianer lebt. Alternative Programme zum Wiederaufbau gebe es nicht. Die Schwestern unterstützen Familien, die kein Geld haben, um Milch für ihre Kinder zu kaufen. Dank Spenden könnten sie Milchpulver kaufen und an die Familien verteilen, sagt die 80-Jährige: „Wir können auch den Transport gewährleisten, um das Milchpulver zu den Familien zu bringen.“ Die Kosten für Bus und Taxi seien sehr teuer geworden. „Die Familien haben nicht nur kein Geld, um Milchpulver zu kaufen, sie können auch nicht für den Bus bezahlen, um es sich hier bei uns in der Stadt abzuholen.“
Bei privaten und internationalen Hilfsorganisationen in Syrien nimmt die Kritik an den Nothilfeprogrammen zu. Jetzt, wo der Krieg zu Ende gehe, bräuchten die Menschen „keine Hilfe, sondern Arbeit“, meint ein UN-Mitarbeiter im Gespräch mit der Autorin in Damaskus, der anonym bleiben möchte. „Wir signalisieren in alle Richtungen, dass wir andere Projekte auflegen müssen, um den Menschen zu helfen“, doch die Geberländer „geben nur Geld für Nothilfe“. Was darüber hinausgehe, stabilisiere die syrische Regierung, gibt der Mitarbeiter die Argumentation der Geberländer wieder. Tatsächlich aber würde das gesellschaftliche Zusammenleben stabilisiert, wenn man den Menschen helfe, ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen.
Wir brauchen Ausbildungsprogramme, wir müssen den Arbeitsmarkt stärken, die Nahrungsmittelproduktion erhöhen. Damit verbessert sich das allgemeine Klima, die Menschen werden zurückkehren.
Die Syrer wollten arbeiten, um ihr Leben wieder selber gestalten zu können. Dass es nicht zu einer noch größeren humanitären Krise in dem Land kommt, sei vor allem dem innersyrischen gesellschaftlichen Engagement zu verdanken, so der Mitarbeiter weiter. Diejenigen, die aus dem Libanon und Jordanien oder auch aus anderen Teilen Syriens in ihre ursprünglichen Orte zurückkehrten, erhielten Hilfe von ihren Familien oder Nachbarn. Das sei „Teil der Kultur“ in den arabischen Ländern. Es gebe eine Art „Gesellschaftsvertrag“, mit dem die Bevölkerung Verantwortung für das übernehme, was der Staat nicht leiste. Jede Familie, jeder Ort, jeder Stadtteil sei vom Krieg betroffen und überall gebe es Einzelinitiativen, kleine Stiftungen oder Familien, die helfen.
Wiederaufbau als „beste Ausbildung“
Die Familie Jabbour in der Altstadt von Homs hat ein Jahr lang ihre Arbeitskraft und ihr Erspartes in die Wiederherstellung ihres Hauses gesteckt. Stolz zeigt Tochter Victoria die Zimmer, Küche, Bad und Balkon - alles ist neu. Das Haus der Familie liegt am Rand des Viertels Hamidiye, das durch eine Straße von Wadi Sagher getrennt ist, wo bewaffnete Gruppen 2012 das Kommando übernahmen. Zwei Jahre später zogen diese aus der Altstadt von Homs ab, die Blockade seitens der syrischen Armee wurde aufgehoben.
Als die Autorin die Familie 2017 traf, klafften große Löcher in den Wänden von Wohn- und Schlafzimmern. Die Fenster waren aus den Rahmen gerissen, direkt vor dem Haus hatten die Kämpfer einen Panzer der syrischen Armee in die Luft gesprengt, der dort für Sicherheit sorgen sollte. Sieht man aus dem Wohnzimmer des Jabbour-Hauses, blickt man noch immer auf die Ruinen von Wadi Sagher. Auch die Reste des zerstörten Panzers sind noch da. Die Straße vor dem Haus jedoch wurde vom Kriegsschutt gereinigt, Strom und Wasser wurden wieder angeschlossen. „Drei Familien sind hierher zurückgekehrt“, erzählt Victoria. Das Nachbarhaus werde gerade renoviert. Wadi Sagher aber ist leer. Nur eine Gruppe Jungen spielt Fußball auf dem Hof der zerstörten Schule. Die hatten die Kämpfer zu ihrem militärischen Hauptquartier gemacht.
Für die Familie Jabbour ist der US-Truppenabzug nicht so wichtig wie die Frage, ob andere Familien in ihr Viertel zurückkehren werden. Einige ihrer Freunde seien wieder da, erzählt Victoria. Die aber, die ins Ausland gegangen seien, würden wohl nicht wiederkommen. Andere Freunde habe sie verloren, weil die sich auf die Seite der Aufständischen gestellt hätten. Im Sommer werde sie das Abitur machen und dann in Homs an der Universität ein Ingenieursstudium beginnen. Eines Tages, so hofft sie, werde sie das Ingenieurbüro ihres Vaters übernehmen können. „Alles in unserem Haus haben wir selber gemacht“, strahlt sie. „Das war für mich die beste Ausbildung.“
Angst vor einer türkischen Invasion
Sorge über den Abzug der US-Truppen und ihrer Verbündeten aus der „Anti-IS-Allianz“ überwiegt dort, wo die US-Truppen die Kontrolle innehaben, östlich des Euphrat. Die Türkei könnte versuchen, hier in die US-Fußstapfen zu treten - ein Vorhaben, das in der Region abgelehnt wird. In al-Hasaka und Qamischli protestierte die Bevölkerung gegen eine mögliche türkische Invasion und forderte die Rückkehr der syrischen Armee. Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG, YPJ) und deren Institutionen der „Föderation Nordsyrien“, von den Kurden auch Westkurdistan („Rojava“) genannt, zeigten sich irritiert.
Sie hätten eng mit der von den USA geführten „Anti-IS-Allianz“ kooperiert, erklärt der Geschäftsmann Nwiran Ahmad im Gespräch mit der Autorin in Aleppo. Ahmad stammt aus Ain al-Arab (Kobanê) und ist von dem politischen Modell der Föderationen in Syrien nicht überzeugt. Im September wurde er als Vertreter von Kobanê in den Stadtrat von Aleppo gewählt, wo er mit seiner Familie lebt. „Sie [die Kurden] haben viele Waffen bekommen und viel Geld, darauf werden sie in Zukunft verzichten müssen“, sagt er. Letztlich sei die politische Führung der syrischen Kurden aber durch eine kommunistische Schule gegangen. Auch wenn Russland nicht mehr die Sowjetunion sei, wüssten „die kurdischen Parteikader, dass Vereinbarungen mit Russland ihnen Sicherheit geben“ könnten.
„Wir müssen verstehen, dass die Kurden aus zwei Teilen bestehen. Einerseits gibt es die Parteien, die taktieren und lavieren, andererseits gibt es die Bevölkerung“, erklärt Nwiran Ahmad. Er selber sei zunächst erschrocken, als er vom beabsichtigten Abzug der US-Truppen gehört habe. Natürlich wolle die Türkei die Lage für sich ausnutzen und „Massaker, wie wir sie in Afrin gesehen haben“ (im März 2018, Anm. d. Autorin) seien wahrscheinlich. Er sei überzeugt, dass die Bevölkerung in den Gebieten östlich des Euphrat mehrheitlich eine Rückkehr der syrischen Armee und der Russen wünsche: „Sie können uns vor einem türkischen Angriff schützen.“
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