Als der Jahresbericht 201/18 von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International veröffentlicht wurde, regten sich die Medien in Israel darüber auf. Denn insbesondere die Einleitung im Bericht über Israel und die palästinensischen Gebiete fand drastische Worte, um die realen Geschehnisse aufs Papier zu bringen:
Die israelischen Behörden haben die Expansion von Siedlungen und entsprechender Infrastruktur in der ganzen West Bank, einschließlich Ostjerusalem, intensiviert und die Bewegungsfreiheit der Palästinenser erheblich eingeschränkt. Israelische Kräfte haben unrechtmäßig palästinensische Zivilisten, einschließlich Kinder, getötet und unrechtmäßig tausende Palästinenser aus den besetzen palästinensischen Gebieten innerhalb von Israel inhaftiert, (und) halten Hunderte ohne Anklage oder Prozess in Administrativhaft. Folter und weitere schlechte Behandlung von Inhaftierten, einschließlich Kindern, blieb allgegenwärtig und wurde ohne Konsequenzen durchgeführt. … Viele, einschließlich Kinder, wurden erschossen und unrechtmäßig getötet, während sie keine unmittelbare Gefahr für das Leben [der israelischen Soldaten] darstellten.
In der Jerusalem Post wurden diese Passagen des Berichts als "ungeheuerliche anti-israelische Vorurteile" bezeichnet, ohne jedoch auf die inhaltliche Substanz der von Amnesty International geäußerten Anschuldigungen einzugehen. Dabei hatte bereits schon vorher die UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, einen bestürzenden Bericht über die Behandlung von Kindern in israelischer Haft veröffentlicht, was ebenso ohne jegliche erkennbare Konsequenzen seitens der internationalen Gemeinschaft geblieben ist. Eine Gruppe von australischen Journalisten produzierte vor ein paar Jahren einen Dokumentarfilm zu dem Thema. Der Film "Stone Cold Justice" sorgte kurzzeitig für einen Aufschrei in der israelischen Regierung und in der englischsprachigen Welt, verpuffte aber ebenso wie die Berichte der Menschenrechtsorganisationen, ohne - wie diese - auch nur das Geringste geändert zu haben.
Gerade für Deutschland, das sich gerne als Moralapostel mit immer größerer internationaler Verantwortung ausgibt, wenn es um Menschenrechte geht, sollte das Thema "Gewalt gegen Kinder" eine gewichtige Rolle spielen. Aber beim jüngsten Besuch der Bundeskanzlerin und ihrer Entourage in Israel wurde dieses Thema nicht einmal ansatzweise erwähnt. Stattdessen erfreute sich Angela Merkel beim gemeinsamen Essen mit dem israelischen Staatspräsidenten Reuven Rivlin über dessen Toast, dass das "iranische Biest ausgehungert und nicht gefüttert" werden muss. Es gehört demnach zur deutschen Staatsräson, keine Kritik - und noch viel weniger Taten den Worten - folgen zu lassen, wenn es um israelische Vergehen geht, die bei jedem anderen Land sofort angeprangert werden würden. So funktioniert Doppelmoral.
Dass die israelische Armee und auch die Siedler extrem brutal gegen Palästinenser vorgehen und dabei keine Unterschiede zwischen Jung und Alt machen, hat durchaus System und Geschichte. Brigade-General Zvika Fogel, ehemaliger Stabschef des Southern Command, dem auch der Gazastreifen untergeordnet ist, bestätigte das in einem Radiointerview:
Ich weiß, wie diese Befehle gegeben werden. Ich weiß, wie ein Scharfschütze schießt. Ich weiß, wieviel Autorisierungen er braucht, bevor er die Erlaubnis zur Eröffnung des Feuers erhält. Es liegt nicht an der Laune des einen oder anderen Scharfschützen, der den kleinen Körper eines Kindes identifiziert und sich dann entscheidet zu schießen. Jemand markiert das Ziel für ihn ganz klar und sagt ihm exakt, warum jemand erschossen werden muss und welche Gefahr von der Person ausgeht. Und zu meinem großen Leidwesen, wenn man manchmal auf einen kleinen Körper schießt und man beabsichtigt, seinen Arm oder die Schulter zu treffen, geht es auch mal etwas höher (zum Kopf/Anm.). Dieses Bild ist kein schönes Bild. Aber wenn das der Preis ist, den wir zahlen müssen, um die Sicherheit und Lebensqualität der Bürger des Staates Israel zu wahren, dann ist es eben der Preis.
Weshalb die israelische Armee, die zu den bestausgerüsteten Armeen der Welt zählt, auf unbewaffnete Zivilisten und eben auch auf Kinder schießen muss, erklärt der Brigade-General gleich auch noch:
Auf dem taktischen Level (ist es so), dass jede Person, die sich dem Zaun nähert, jeder der eine künftige Gefahr für die Grenze des Staates von Israel und seiner Einwohner darstellt, sollte die Kosten für diese Verletzung tragen. Wenn ein Kind oder irgendjemand anderes sich dem Zaun nähert, um eine Sprengvorrichtung zu verstecken oder untersucht, ob es irgendwelche tote Zonen dort gibt, oder ein Loch in den Zaun schneiden will, damit irgendjemand das Territorium des Staates Israel infiltrieren kann, um uns zu töten…
An dieser Stelle unterbricht ihn der Moderator und fragt "Dann ist seine Strafe der Tod?"
Seine Strafe ist der Tod. Soweit es mich betrifft, dann ja, wenn du ihm nur ins Bein oder den Arm schießen musst, um ihn zu stoppen, großartig. Aber wenn es mehr als das ist, dann, ja, Sie wollen mit mir klären, wessen Blut dicker ist, unseres oder ihres.
Nun, dazu bedarf es keiner weiteren Antworten, weil sie Brigade-General Fogel bereits sehr anschaulich geliefert hat. Die offizielle Anweisung des israelischen Militärs und damit auch der israelischen Regierung lautet, dass jeder, der sich dem Zaun auf 300 Meter nähert, erschossen werden darf.
Diese Praxis hatte somit auch zur Folge, dass allein im Jahr 2018 bisher mindestens 44 Kinder (im Jahr 2017 waren es 15 Kinder) durch israelische Streitkräfte getötet wurden, die meisten von ihnen im Gazastreifen. Wie die Soldaten dabei vorgehen und sich über den Treffer freuen, zeigt dieses Video. Selbst dreijährige Kinder werden dabei Opfer von Scharfschützen. Während einer "militärischen Übung" in der Nähe von Tubas im Westjordanland schoss ein Soldat dem Jungen in den Kopf. Nur den Ärzten des von der Türkei geführten Krankenhauses in Tubas ist es zu verdanken, dass dieser eine Junge diesen Kopfschuss überlebt hat.
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