Robert Fisk an der Frontlinie in Idlib: "Ich habe nicht gefunden, was ich erwartet hatte"

Eine syrische Großoffensive gegen die sogenannten "Rebellen" in der Provinz Idlib steht angeblich bevor. Der Westen warnt vor einer humanitären Katastrophe, einem Massenmord an Zivilisten und dem Einsatz von Chemie-Waffen. Reporterlegende Robert Fisk war vor Ort.

Die einzigen Kräfte, auf die ich stieß, waren riesige Schafherden und – in der Nähe von Aleppo – eine Kolonne von Kamelen. Der Krieg könnte kommen, aber noch nicht jetzt.

(The only massed forces I came across were vast herds of sheep and, close to Aleppo, a string of camels. War might be coming, but not yet.)

So das Fazit von Reporterlegende Robert Fisk, das er seinem kürzlich in The Independent erschienenen Bericht von der Frontlinie in der syrischen Provinz Idlib voranstellt. Zwei Tage lang war er direkt vor Ort unterwegs, um sich selbst ein Bild von der Lage zu machen. Schließlich steht angeblich eine Großoffensive der syrischen Armee zur Befreiung der "letzten Bastion der Rebellen" bevor. Zudem warnt der Westen vor einer humanitären Katastrophe und dem neuerlichen Einsatz von Chemie-Waffen. Die USA drohten bereits Assad und Russland:

Wenn Chemiewaffen zum Einsatz kommen, wissen wir, wer es war.

Auch Deutschland erwägt für einen solchen Fall seine unmittelbare Beteiligung an einer militärischen "Vergeltungsaktion" gegen die "Verantwortlichen", die für die USA offenbar bereits von vornherein feststehen: das syrische "Regime" von Präsident Baschar al-Assad und seine Truppen. Ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages weist zwar darauf hin, dass ein solcher Einsatz der Bundeswehr sowohl gegen das Völkerrecht als auch gegen das Grundgesetz verstoßen würde. Dennoch wird eine solche widerrechtliche Militäraktion im Bundesverteidigungsministerium geprüft und von der Bundesregierung – wenn auch kontrovers – diskutiert.

Und selbst ohne einen solchen "Giftgaseinsatz" drohen die USA gegenüber Russland mit drastischen Maßnahmen, sollte Russland als Verbündeter Syriens deren Regierungstruppen dabei unterstützen, die Kontrolle über ihr eigenes Staatsgebiet zurückzuerlangen.

Mehr zum ThemaGrundgesetz egal? Koalitionsstreit um Syrien-Einsatz der Bundeswehr

Soweit das Szenario und die Warnungen und Drohungen, fernab des eigentlichen Geschehens. Was also hat Robert Fisk von alledem direkt vor Ort gesehen?

Auch Fisk spricht davon, dass Syrien kein Geheimnis daraus macht, 100.000 Mann rund um Idlib zur "letzten Schlacht" gegen die islamistischen Feinde zusammengezogen zu haben. Diesen stünden laut "Experten" 30.000 Kämpfer in Idlib gegenüber. Er selbst schätzt ihre Anzahl eher auf 10.000. Insgesamt sollen sich in Idlib zwischen zweieinhalb und drei Millionen Zivilisten aufhalten. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Außer, dass sich die Zahlen der in Ost-Aleppo eingeschlossenen Zivilisten nach deren Befreiung 2016 als weit übertrieben herausstellten. So zumindest kommentiert Fisk die kursierenden aktuellen Zahlen rund um Idlib und fragt:

Woher wissen wir, dass 100.000 syrische Soldaten die wahre Angabe sind?

Während der zwei Tage und der insgesamt fast 500 Kilometer, die Fisk vor Ort an der Frontlinie unterwegs war, in Ortschaften, auf Straßen und Pisten im Aufmarschgebiet der syrischen Armee rund um Idlib, sah er nirgends ein massives Truppenaufgebot, weder der Syrer noch ihrer Verbündeten:

Es gab keine gepanzerten Fahrzeuge, keine Iraner, keine Hisbollah, keine Russen, keine Konvois der Feldartillerie – obwohl ich die Fotos der syrischen Konvois vor ein paar Wochen gesehen hatte – und die einzigen Kräfte, auf die ich stieß, waren riesige Schafherden und – bei Aleppo – eine Kolonne von Kamelen. Kein einziger Soldat trug eine Gasmaske. Was gewiss ein sicheres Zeichen für einen drohenden chemischen Angriff irgendwo an der Front wäre, wer auch immer das Zeug einsetzen würde.

Selbstverständlich heißt das nicht, dass die syrische Armee nicht zur Invasion in der Gegend irgendwo bereitstünde, schreibt Fisk. Schließlich hätten die Syrer lautstark angekündigt, die letzte Islamistenbastion in Idlib zu zerstören. Fisk bestätigt auch den Fluglärm startender syrischer Jets von der Luftwaffenbasis Hama. Was er fand, waren etwa Befestigungsanlagen und Aufklärungsposten des türkischen Militärs entlang der syrischen Grenze, von denen ihm ein syrischer Offizier berichtet habe, dass von dort aus die NATO Syrien observiert und daher die syrische Kommunikation abhören könnte. Was andersherum den Syrern offensichtlich nicht möglich wäre.

Mehr zum ThemaIdlib und die Tränen des Westens über eine nichtexistente humanitäre Krise

Laut einem von Fisk darauf angesprochenen syrischen Kommandeur, läge er zu "50 Prozent richtig", dass es keine "Großoffensive" geben wird, während zeitgleich noch Verhandlungen zwischen Syrern, Russen sowie Türken, den bewaffneten Kämpfern und – hoffentlich – den Zehntausenden von eingeschlossenen Zivilisten laufen.

Fisk vermutet hingegen, dass die syrische Militärpräsenz weniger einer direkten Offensive gegen Idlib dient, sondern dazu, Oppositionseinheiten zu bekämpfen, die vor Luftangriffen aus dem Kampfgebiet zu fliehen versuchen. Wenn es eine letzte Schlacht geben sollte, dann würden die gegnerischen Einheiten nicht wieder davonkommen, es sei denn, die Russen, Iraner und Türken einigten sich doch noch auf eine friedliche Lösung.

Auch das Gelände selbst sei wenig geeignet für eine massive Militäroffensive gegen Idlib, zitiert Fisk einen syrischen Offizier:

Dieser Ort ist so voll von Bergen, Tälern, Hügeln und Felsen, dass man sechs Divisionen braucht, um hier zu kämpfen. Und wir haben nur eine.

Schließlich stellt sich Fisk selbst die Frage, wie es möglich sein soll, eine Offensive mit massiven Panzerverbänden in einem Waldgebiet zu starten. Sicher wäre es möglich, dass syrische Verbände auf der Lauer liegen, doch hätte er dann wenigsten irgendetwas von ihnen gesehen. Was er auf seiner Tour durch die Frontlinie sah, waren vor allem heruntergekommene und deprimierend wirkende Orte und Dörfer. Darüber hinaus berichtet Fisk:

Ich war auf der Rückfahrt auf einer Versorgungsroute. Vierzig Soldaten in einem Wellblechschuppen mit Coffeeshop, fünf Hubschrauber, einer davon ein Aufklärer, die um den zurückeroberten Flugplatz, eine langjährige Radarposition, herum schweben und vier abgedeckte zivile Lastwagen. Nicht viele Beweise für die "Operation Dawn of Idlib", wie sie von der syrischen Armee offiziell genannt wird.

Angesichts all dessen kommt er zu dem Schluss, dass – wie wahr oder illusorisch auch immer die Berichte im Einzelnen seien mögen – es lächerlich wäre zu behaupten, Russen und Syrer bombardierten nicht die Provinz und ihre Städte. Allerdings sei es eine Tatsache, dass – soweit bekannt – nicht ein einziger westlicher Journalist, der darüber berichtet, sich selbst vor Ort in Idlib befindet. Fisk hingegen war vor Ort, und schreibt:

Die Tour an der Front auf Militärstraßen, wie ich sie gerade auf der syrischen Seite der Linien unternommen habe, bedeutet nicht, dass ich jedes Tal und jedes Wadi oder jeden Flecken der Wüste sehen kann. Es ist eine Tatsache, dass es hier mehrere russische Beobachtungsposten gibt – aber ich habe sie nicht gesehen. Ebenso wie einen türkischen Posten, installiert gemäß dem russischen "Deeskalationsabkommen", den ich nicht finden konnte.

Ich schätze, dass die 'letzte Schlacht' noch eine Weilchen auf sich warten lässt. Sie wird kommen, sicher.

(…) aber Syrien will nicht gegen die Türkei in den Krieg ziehen.

Fisk glaubt nicht, dass sich die Türkei, die so viele Kämpfer nach Syrien gelassen hat, sich von einem massiven Aufgebot der syrischen Armee einschüchtern lassen wird. Allerdings könnte der türkische Präsident Recep Erdoğan infolge der Gespräche mit seinem russischen Amtskollegen Waldimir Putin etwas entgegenkommender sein:

Vielleicht nimmt jemand die ausländischen Kämpfer zurück. Oder schickt sie in ein anderes Land, um zu kämpfen und zu sterben. Libyen vielleicht? Jemen? Diese Männer – und ihre Familien – sind in den letzten Jahren ziemlich viel durch den Nahen Osten gezogen. Ich vermute, es wird mehr Verhandlungen zwischen Putin und Erdoğan und Assad geben. Und – über Putin – vielleicht auch mit den Saudis?

Mehr zum Thema - Frankreichs Außenminister: Eine Idlib-Offensive würde die Dschihadisten nach Europa spülen