von Ali Özkök
Noor Dahri ist Direktor der Abteilung für Bekämpfung des islamischen Terrorismus der Beratungsfirma Command Eleven mit Sitz in Islamabad. Das Unternehmen fungiert als akademische Beratungsinstanz für die pakistanische Regierung, das Militär und Geheimdienste.
Die Taliban haben jüngst gleichzeitig mehrere Städte in Afghanistan, darunter Kabul, innerhalb weniger Tage angegriffen. Was ist der Grund für diese Blitzoffensive?
Die Taliban wollen ihre Macht zur Schau stellen und sich letztlich an der Regierung des Landes beteiligen. Dafür wollen sie beweisen, dass sie die wahren Vertreter der Bevölkerung des Landes sind. Sie kontrollieren inzwischen bis zu 80 Prozent des Staatsgebietes von Afghanistan.
Lange Zeit konnten die Taliban nur wenige kurze Angriffe durchführen. Jetzt sind die Taliban in der Lage, mehrere Angriffe gleichzeitig zu starten. Wird daraus ein unschlagbarer Gegner erwachsen?
Die Taliban sind besser organisiert, ausgebildet, finanziert und ausgerüstet als je zuvor. Also änderten sie ihre weiche Kriegsstrategie in eine harte, um ihre Angriffe zu verstärken. Sie wollen die afghanische Regierung so stark es geht unter Druck setzen.
Können Sie konkreter werden?
Die alte Guerilla-Kriegsstrategie hat sich geändert und ging in eine neue Strategie über. Das Ziel ist es, nun länger zu bleiben, die tatsächliche Macht sowie militärische und zivile Präsenz zu demonstrieren. Sie haben für diese Offensiven grünes Licht von mächtigen Nachbarländern erhalten. Sie dürfen jetzt bleiben und am Boden kämpfen. Sie müssen sich nicht mehr auf ihre traditionelle Hit-and-Run-Strategie beschränken.
Es gibt Berichte, dass sich den Taliban auch regierungsnahe Milizen anschließen. Stimmt das?
Die Milizen haben erkannt, dass es in Afghanistan nur dann ein Überleben gibt, wenn sie sich den Taliban anschließen. Die Taliban unterhalten auch gezielt einige enge Beziehungen zu regierungsnahen Milizen, um die afghanische Regierung zu schwächen. Regierungsnahe Milizen verkaufen ihre Waffen und sogar ganze Checkpoints an die Taliban.
Wie stark ist die Akzeptanz der Kabuler Regierung in der Bevölkerung?
Die offiziell anerkannte Regierung in Kabul hat es versäumt, ihre Präsenz in der afghanischen Bevölkerung zu etablieren. Sie können nicht einmal aus der grünen Zone herauskommen, wie kommt es, dass sie ganz Afghanistan repräsentieren sollen? Ihre Macht ist begrenzt und selbst in Kabul gibt es keine reale staatliche Ordnung. Diese afghanische Regierung ist unbeliebt und militärisch absolut schwach.
Im Westen denkt man gerne, dass die USA zusammen mit ihren Verbündeten die Situation in Afghanistan kontrollieren. Stimmt das mit der Realität überein?
Die USA und ihre Verbündeten haben es über ihre Regierung in Kabul kurzum nicht geschafft, die Sicherheit des Landes aufrechtzuerhalten. Seit 2009 kann die US-Armee ihre Baracken nicht mehr offen verlassen. Nicht einmal der US-Außenminister darf bei Besuchen in Afghanistan die US-Militärbasis verlassen. Die USA und ihre Verbündeten haben die Kontrolle über Afghanistan verloren und stecken nun in einem Morast fest, aus dem sie nicht herauskommen.
Die USA wollen den Krieg in Afghanistan fortsetzen, um durch Ausbildung und Unterstützung der lokalen Milizen größere Sicherheitsherausforderungen für Russland und China zu schaffen.
Passend dazu wanderte die Führung des "Islamischen Staates" von Syrien und Irak unbehelligt nach Afghanistan aus, um ihre starke Präsenz auf afghanischem Boden zu zementieren und eine direkte Bedrohung für die Nachbarländer zu schaffen. Im Vakuum von Afghanistan kann sich der IS perfekt bewegen. Die US-Truppen bleiben also in Afghanistan nicht, um den Terror nachhaltig zu bekämpfen. Die US-kontrollierten Milizen haben seit langem die Fähigkeit verloren, richtige Kämpfe zu führen.
Wollen die USA also keine Stabilität oder verstehen sie einfach nicht die Dynamik des Landes, um dem Land dauerhaften Frieden zu bringen?
Die USA können ihre starke Präsenz in Afghanistan nicht aufrechterhalten, sie haben die afghanischen Warlords und ihre Milizen falsch unterstützt. Anders als erhofft haben die USA es durch diese Politik vollbracht, das Vertrauen der lokalen Bevölkerung zu verlieren. Ihre politische und militärische Strategie ist in Afghanistan völlig gescheitert.
Gegenwärtig halten die USA geheime Treffen mit den Taliban in Doha ab. Worum geht es?
Wie ich bereits erwähnt habe, sind die USA nicht in der Lage, Afghanistan zu kontrollieren, also brauchen sie eine starke Miliz, die in der Bevölkerung stark verwurzelt ist. Die einzigen, die eine solche Legitimität besitzen, sind die Taliban. Deshalb halten sie geheime Treffen in Doha ab, um die Taliban in die afghanische Regierung reinzuholen.
Wird eine Kooperation zwischen den USA und Taliban funktionieren?
Die USA spielen ein doppeltes Spiel in Afghanistan, einerseits unterstützen und begrüßen sie die Taliban im politischen Mainstream und andererseits unterstützen, trainieren und finanzieren sie weiterhin Anti-Taliban-Milizen, um sie zu schwächen. Deshalb haben sie das Vertrauen der Taliban verloren. Die USA können ihr Ziel, die Taliban an den Verhandlungstisch zu bringen, nicht erreichen.
Woher beziehen die Taliban ihre Unterstützung und ihre militärische Schlagkraft?
Zu Beginn erhielten die Taliban nur Unterstützung von Pakistan, aber andere mächtige Nachbarländer schließen sich inzwischen dem Klub an, um die Taliban auszubilden, zu finanzieren und unterzubringen.
Das jüngste Treffen der Taliban in China ist ein klarer Beweis dafür. Die Taliban verlassen sich heute nicht mehr so sehr auf religiöse Kulte wie früher. Die gegenwärtige Situation hat sich drastisch verändert. Das jüngste Beispiel ist, dass sich auch die pro-russischen Gruppen aus dem kommunistischen Block ihnen angeschlossen haben. Die Taliban sind zu einer der stärksten kämpfenden Einheiten Afghanistans geworden und jederzeit bereit, das Land komplett zu übernehmen.
Welche Rolle spielt Pakistan in Afghanistan, etwa wenn es darum geht, Streitigkeiten mit dem Erzfeind Indien auszufechten?
Die politischen und geheimdienstlichen Interessen Pakistans sind natürlich immer mit einem Blick auf Afghanistan gerichtet. Pakistan toleriert die indische Präsenz auf afghanischem Boden nicht. Pakistan kann nicht hinnehmen, dass Indien eine wichtige Rolle bei der Destabilisierung seiner Vormacht in Afghanistan spielt, weshalb Pakistan Indien als direkte strategische Bedrohung betrachtet.
Pakistan würde alles tun, um Indien aus Afghanistan zu vertreiben, indem es politische, militärische oder geheimdienstliche Werkzeuge einsetzt. Der ehemalige Präsident hatte in seinem Interview mit dem Guardian (Februar 2015) darauf hingewiesen, dass Pakistan die Regierung von Kabul schwächen will, weil sie zunehmend von Indien unterstützt wird. Pakistan hat unzählige Beweise für das Engagement Indiens geliefert, um Pakistan über die afghanische Regierung zu destabilisieren.