von Ali Özkök
Mevlüt Tatlıyer ist Wirtschaftsprofessor und Analyst beim einflussreichen türkischen Forschungszentrum SETA, das auch die türkische Regierung in wirtschaftlichen, politischen und sozialen Fragen als wissenschaftliche Instanz berät. İbrahim Kalın, der Gründungsdirektor von SETA, ist Chefberater des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seit 2014 auch Sprecher des Präsidenten.
Glauben Sie, dass die Konfrontation mit den USA weitergehen wird und ist der Fall Andrew Brunson ein Vorwand, um die Türkei daran zu hindern, einen unabhängigen politischen Kurs in ihrer Region einzuschlagen?
Während sich das Zentrum der Weltwirtschaft auf das asiatische Festland und gen Osten verlagert, werden die USA immer ärgerlicher und feindseliger gegen fast alle und sogar gegen ihre sogenannten Verbündeten in Europa. Die Türkei befand sich so lange im Orbit der USA. Diese Situation änderte sich jedoch seit den 2000er Jahren mit den aufeinanderfolgenden Regierungen der AK-Partei dramatisch, da die Türkei sowohl wirtschaftlich als auch politisch, sowohl in absoluten Zahlen als auch in relativen Zahlen, mächtiger geworden ist.
Viele in der Türkei und auf der ganzen Welt denken, dass die USA versuchen, die Türkei sowohl politisch als auch wirtschaftlich zu destabilisieren, um die Türkei wieder von sich abhängig zu machen. Auf der anderen Seite will Erdoğan eine unabhängige und starke Türkei, aus offensichtlichen und verständlichen Gründen. Für viele ist dies der Grund, warum die US-amerikanischen und westlichen Medien grundlegend und manchmal hysterisch im Clinch mit Erdoğan stehen.
Im westlichen Mainstream erklärt sich der Zusammenbruch der türkischen Währung durch schlechte wirtschaftliche Grunddaten und die Intervention des türkischen Präsidenten in die Arbeit der Zentralbank. Was ist Ihre Meinung?
Die wirtschaftlichen Grundlagen der Türkei waren und sind stark. Wenn man sich die Wirtschaftsdaten über die Türkei ansieht, kann man deutlich erkennen, wie gesund die türkische Wirtschaft ist. Andererseits ist die türkische Wirtschaft für die meisten westlichen Medien in keiner guten Verfassung. Allerdings scheitern diese Medien, wenn sie versuchen, ihre Behauptungen zu unterstützen und zu untermauern. Sie greifen meist auf irgendeine politische Rhetorik zurück, nicht auf relevante "Zahlen". Sie versuchen kaum, ihre Argumente bezüglich der Türkei mit relevanten Wirtschaftsdaten zu untermauern.
Wenn sie Wirtschaftsdaten über die Türkei liefern, was sie selten tun, dann erfolgt dies meist im Stile des Rosinenpickens. Ein gutes Beispiel dafür sind die Daten der "kurzfristigen Devisenverbindlichkeiten von Nicht-Finanzunternehmen". Westliche Medien und Ratingagenturen zitieren dieses Verhältnis, um zu zeigen, wie "verwundbar" die türkischen Unternehmen und die türkische Wirtschaft gegenüber externen Schocks wären. Sie erwähnen jedoch nicht die "kurzfristigen Devisenanlagen" dieser Nicht-Finanzunternehmen in der Türkei.
Was ist also dann die Realität? Das kurzfristige Finanzvermögen der Unternehmen in der Türkei, die nicht im Finanzsektor tätig sind, ist um 6,5 Milliarden US-Dollar höher als ihre kurzfristigen Finanzverbindlichkeiten! Die Haltung der westlichen Medien und Ratingagenturen ist, gelinde gesagt, völlig absurd.
Welche wirtschaftlichen oder finanzpolitischen Faktoren sprechen Ihrer Meinung nach gegen die Aussage, dass die türkische Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs steht?
Dieses Narrativ hat nichts mit ökonomischen Grundlagen zu tun. Wenn wir uns die relevanten Wirtschaftsindikatoren für die Türkei anschauen, werden die Fakten ganz klar. Nehmen wir die öffentliche Verschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), vielleicht der wichtigste Indikator für die Fähigkeit eines Staates, seine Schulden zu begleichen. Diese Quote liegt in der Türkei bei nur 28 Prozent. Mit dieser Leistung ist die Türkei eines der am wenigsten verschuldeten Länder der Welt. Zum Beispiel ist dieses Verhältnis in den meisten Ländern um ein Vielfaches höher. In den USA liegt diese Quote bei 105 Prozent. Sie beträgt 132 Prozent für Italien und 253 Prozent für Japan.
Ein weiterer wichtiger Indikator, die allgemeine Auslandsverschuldung im Verhältnis zum BIP, liegt in der Türkei bei 53 Prozent. Dieses Verhältnis ist eindeutig nicht zu hoch, wenn auch nicht sehr niedrig. Diese Quote beträgt 141 Prozent in Deutschland, 167 Prozent in Spanien und 213 Prozent in Frankreich.
Wie ich bereits sagte, ist die kurzfristige Devisenposition der türkischen Unternehmen, die nicht im Finanzsektor operieren, recht gut. Und auch der türkische Bankensektor ist stabil. Die Banken weisen kein Fremdwährungsrisiko aus.
Anders als im westlichen Schnitt hat die Türkei eine sehr dynamische Bevölkerung und Wirtschaft. Die türkische Wirtschaft ist 2017 um 7,4 Prozent gewachsen. Diese Entwicklung setzte sich auch im ersten Quartal 2018 fort. Das ist zwar eine bemerkenswerte Leistung, vor allem gemessen an den weltweit schwachen Wachstumsraten. In dem Sinne erscheint es geradezu ironisch, dass in vielen westlichen Medien die Rede von einer "drohenden" Wirtschaftskrise in der Türkei ist. Es scheint so, als wenn diese Behauptungen über die türkische Wirtschaft nur Teil eines Wunschdenken sind.
Wo sehen Sie die größten mittelfristigen Herausforderungen für die türkische Wirtschaft aus rein ökonomischer Sicht?
Die türkische Wirtschaft hat ihre eigenen Schwächen wie andere Länder auch. Die größte Schwäche der türkischen Wirtschaft ist das hohe Leistungsbilanzdefizit. In den letzten Jahren hat sich das Leistungsbilanzdefizit der Türkei jedoch tatsächlich leicht verbessert. Niemand in den westlichen Medien sprach von einem wirtschaftlichen Zusammenbruch in jenen Jahren, in denen das Leistungsbilanzdefizit höher war.
Die größte Herausforderung für die türkische Wirtschaft ist die Falle des mittleren Einkommens, und die Türkei ist sich dessen wohl bewusst. Die Türkei muss ihre technologische Lücke schließen und ihr "Energieproblem" lösen. In den letzten Jahren gab es wichtige Entwicklungen zu diesen Themen, insbesondere über die Entwicklung der Verteidigungsindustrie.
Was ist Ihrer Meinung nach das Kalkül für die meist westliche Auslegung, wonach Präsident Erdogan die Zentralbank mit eiserner Hand kontrolliert?
Das Eintreten für "billiges Geld", also niedrige Zinsen, ist bekannt. John Maynard Keynes, vielleicht der wichtigste Ökonom des 20. Jahrhunderts, ist auch ein leidenschaftlicher Befürworter der niedrigen Zinsen, weil die Realwirtschaft nur so gesund sowie robust sein und bleiben kann, ich zitiere Keynes aus seinem Werk "The General Theory of Interest, Employment and Money", Seite 376. Für eine gut funktionierende, faire und nachhaltige Wirtschaft braucht also nicht nur die Türkei, sondern die ganze Welt niedrigere und nicht höhere Zinsen. Erdogan und Keynes haben in dieser Frage die gleiche Meinung.
Andererseits liegt es auf der Hand, dass die Inflationsraten für eine gut funktionierende Wirtschaft in Schach gehalten werden sollten. Die Zentralbanken auf der ganzen Welt versuchen, dies sicherzustellen. Doch gerade seit den 1990er Jahren wird das Ziel der Preisstabilität zusammen mit der Finanzialisierung der Weltwirtschaft zum Nachteil der Realwirtschaften weltweit überbetont, da die "Marktmacht" dramatisch zunahm und die Märkte gewissermaßen zu Herren über die Staaten wurden, wie die prominente International Relations (IR)-Wissenschaftlerin Susan Strange betont. Dies war unter anderem ein wichtiger Grund für das Auftreten der globalen Finanzkrise 2008/09. Deshalb will Erdoğan einfach nur, dass unnötig hohe Zinsen der Realwirtschaft nicht schaden. Diese Sorge ist völlig verständlich, da er als Präsident den Wählern gegenüber die Verantwortung für die Wirtschaft trägt.
Andererseits ist sich Erdoğan bewusst, dass Zinssätze nicht minimiert oder "eliminiert", sondern "optimiert" werden sollen. Nicht zu hoch, aber auch nicht zu niedrig. Während die Finanzmärkte versuchen, sich für höhere Zinssätze nur zu ihrem eigenen Vorteil einzusetzen, versucht Erdoğan auch einfach, sich für niedrigere Zinssätze im Sinne der Realwirtschaft und der Menschen in der Türkei einzusetzen.
Erdoğan kontrolliert die Zentralbank auch nicht mit einer "eisernen Hand". Wenn es so wäre, würde er nicht für niedrigere Zinsen plädieren, sondern diese einfach "diktieren".
Wie in vielen Ländern ist die türkische Zentralbank unabhängig und verfolgt die Preisstabilität im Rahmen des Inflationszielregimes. Es gibt also keinen Platz zum Diktieren. Dies wird offensichtlich, wenn man sieht, dass die türkische Zentralbank ihren Leitzins in den letzten Monaten um 500 Basispunkte erhöht hat und Erdoğan das nicht kommentiert hat. Bei Bedarf sind Zinserhöhungen willkommen. Man sollte nicht vergessen, dass das Wirtschaftswachstum in der Türkei in der Ära Erdoğan, also seit 2002, durchschnittlich 5,7 Prozent pro Jahr beträgt. Unter der Führung von Erdoğan ist die türkische Wirtschaft um mehr als 100 Prozent und die türkische Industriebasis um mehr als 160 Prozent gewachsen. Diese spektakuläre Leistung wäre mit einer irrationalen Wirtschaftspolitik nicht möglich gewesen, wie uns die westliche Auslegung glauben lassen will.
US-Präsident Trump kündigte Sanktionen gegen die Türkei an, während Finanzminister Albayrak einen neuen Aktionsplan zur Reform der türkischen Wirtschaft vorlegte. Wie wurde das vom türkischen Volk und den Entscheidungsträgern aufgenommen?
Das türkische Volk ist der Meinung, dass die USA versucht haben, die Türkei zu destabilisieren. Sie wissen, dass dieser letzte Schritt der US-Regierung überhaupt nicht fair und völlig inakzeptabel ist. Also haben sie sich auf die Seite ihrer Regierung gestellt. Dazu gehören auch viele im Oppositionslager in der Türkei. Wir können also sagen, dass das türkische Volk gegen diesen offensichtlich irrationalen und feindseligen Schritt der USA große Solidarität zeigt.
Russland, Iran und Deutschland haben sich in dem Streit auf die Seite der Türkei gestellt. Könnte dies der Beginn eines verstärkten regionalen Integrationsprozesses sein? Gibt es bereits konkrete Schritte?
Viele Menschen sind der Meinung, dass Geografie Schicksal ist. Es ist klar, dass dieser Satz wichtige Verdienste hat. Sie wollen nicht, dass Ihr Nächster destabilisiert wird oder in Trümmern liegt, weil auch Sie mit diesen Krankheiten "infiziert" werden können, schon aus reiner Nähe im Raum. Ich glaube, hier gehen die Wege der USA und Europas auseinander. Was wir brauchen, ist ein stabiles, integriertes und florierendes Umfeld für die Verbesserung und Weiterentwicklung Westasiens und Europas. Dies ist zum allgemeinen Nutzen aller Länder und Menschen in diesen Regionen.