Pakt der Schande: Das koloniale Sykes-Picot-Abkommen als Wurzel des Nahost-Konflikts

Am 16. Mai jährt sich der 1916 konzipierte Sykes-Picot-Pakt. Heute gilt das Abkommen als Beispiel für zynische westliche Machtpolitik ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten von Völkern - und ist Quelle anhaltender Wut gegen den Westen im Nahen Osten.

von Ali Özkök

Das Geheimabkommen, abgeschlossen zwischen dem britischen Diplomaten Sir Mark Sykes und dessen französischem Konterpart François Georges-Picot, sollte in der Zeit seines Entstehens die beiden Achsenmächte zusammenrücken lassen. Dies war bedeutend, da sich die Lage an den Fronten des Ersten Weltkriegs nach Niederlagen bei Gallipoli und in Mesopotamien sowie in Anbetracht einer deutsch-osmanischen Offensive auf den Suezkanal für beide als ungünstig darstellte.

Für die bis dahin so mächtigen Kolonialmächte hätten weitere Rückschläge ungeahnte Folgen zeitigen können. Deshalb wollte man sich auf eine verbindliche Nachkriegsordnung im Falle eines Sieges einigen. Diese sollte zum einen beiden Mächten dauerhaften Einfluss in der Region sichern, zum anderen die staatliche Ordnung des Osmanischen Reiches zerschlagen und darüber hinaus einen zu großen Einfluss Russlands verhindern sollte, das entlang der Kaukasusfront im Krieg gegen die Osmanen stand.

Osmanisches Reich sollte zerschlagen werden wie die Habsburgermonarchie

Unrealistisch war die Perspektive ja nicht: Das Osmanische Reich befand sich tatsächlich bereits seit langer Zeit in einer Phase der Schwäche. In Istanbul hatten die Jungtürken die Macht an sich gerissen. Im Osten hatten Armenier den Aufstand und die Abspaltung von Gebieten geprobt, was Istanbul mit einer Zwangsumsiedlung und Vertreibung beantwortete, die hunderttausende Tote forderte. Auf dem Balkan blühten Nationalismus und Separatismus auf. Gleichzeitig schwand die Macht in den zahlreichen arabisch bevölkerten Territorien des Osmanischen Reiches und konfessionelle Spannungen breiteten sich aus. Die aufeinanderprallenden tribalistischen Stammesinteressen taten ihr Übriges. Letztere Entwicklung sollte dann im Zentrum des Abkommens stehen.

Wie es der europäischen Kolonialistenlogik bereits damals immanent war, vertrauten ihre Protagonisten einander auch wechselseitig nicht – selbst wenn es um Verbündete ging –, und so dachte Sykes gleich auch noch Wege mit, um den Franzosen den Kuhhandel als deren Interessen dienlich verkaufen zu können.

Frankreich sollte "Erbe der Kreuzritter" erlangen

Vor allem sollte die Aufteilung osmanischer Gebiete dem Empire Vorteile bringen: Südlich der Trennlinie in der "roten Zone", welche die Briten für sich beanspruchten, sollte ein Puffer entstehen, um den Suezkanal zu schützen. Die für die Franzosen vorgesehene "blaue Zone" sollte sich wiederum zwischen Russland, das damals noch britisch beherrschte Indien und die Protektoratsgebiete in Ägypten und auf der Arabischen Halbinsel schieben.

Für Jerusalem wollte man eine internationale Verwaltung schaffen, Haifa sollte britisch bleiben, auch das spätere Mandatsgebiet Palästina und der Norden des heutigen Irak rund um Mossul sollten ebenfalls von London kontrolliert werden.

Frankreich sollte nicht zuletzt dadurch zufriedengestellt werden, dass es als vermeintliches Land des "Erbes der Kreuzritter" Syrien, den Libanon und Hatay zugedacht bekäme – was im Vergleich mehr war als seiner eigentlichen Bedeutung entsprochen hätte. Außerdem sollte Paris im Gegenzug grünes Licht geben für einen Angriff auf das Osmanische Reich über die Südflanke bei Iskenderun. Dass Frankreich dies zuvor abgelehnt hatte, nahm den Achsenmächten die Möglichkeit eines gleichzeitigen Angriffs von zwei Seiten und zwang sie dazu, als alleinigen Weg den Einfall in Gallipoli zu unternehmen – mit den bekannten fatalen Folgen.

Mit dem Sykes-Picot-Abkommen war allerdings auch die Stunde des "Lawrence von Arabien" gekommen, des in Kairo ansässigen Geheimagenten Thomas Lawrence, der namens britischer Diplomaten Kontakt zum damaligen Herren der Heiligen Stätten des Islams aufnehmen sollte, den Scherifen Hussein in Mekka.

Für arabische Stämme des Osmanischen Reiches wurde der Nationalismus zum Eigentor

Von Europa aus hatten nationalistische Vorstellungen innerhalb der unterschiedlichen Volksgruppen bereits über Jahre hinweg Fuß fassen können. Die arabischen Stämme sollten mit die Letzten sein, die davon ereilt werden sollten – aber es gelang, sie dafür zu begeistern und sie widmeten sich diesem teils mit besonderer Inbrunst.

Neben dem Nationalismus appellierten die Engländer vor allem aber auch an die religiösen Vorstellungen im arabischen Raum. Scherif Hussein sollte sich selbst zum spirituellen Oberhaupt der Muslime und vor allem der Araber stilisieren und den Dschihad gegen den Sultan in Konstantinopel ausrufen, der als Verfälscher des Islam dargestellt werden sollte - während Hussein angeblich den wahren Islam der Gefährten des Propheten wiederbeleben würde. Dass der Scherif stattdessen eine Marionette des britischen Herrschaftsanspruchs darstellen würde, fiel offenbar in den arabischen Stämmen kaum jemandem auf, die selbst untereinander kaum geeint waren.

Auch weitere Verbündete wie Russland und Italien sollten nicht ohne "Belohnungen" aus dem Sykes-Picot-Abkommen hervorgehen, Moskau sollte Konstantinopel regieren können und damit der Orthodoxie ihre alte Hauptstadt zurückholen. Auch Italien sollte Teile des osmanischen Territoriums erlangen.

Bolschewiki ließen britisch-französische Pläne auffliegen

Die Diplomaten hatten jedoch die Rechnung ohne die Große Sozialistische Oktoberrevolution gemacht, die unter kräftiger Mithilfe Deutschlands 1917 in Russland die Karten neu mischen sollte und nicht nur dazu führte, dass die russische Armee sich von der Kaukasusfront zurückzog, sondern auch dazu, dass das Geheimpapier und sein Inhalt an die Öffentlichkeit drangen.

Die Architekten des Abkommens sollten den Arabern ihre naive Begeisterung anschließend auch auf ihre Weise danken: Statt eines einheitlichen arabischen Staates errichteten England und Frankreich Monarchien, die in erster Linie vom Wohlwollen des Westens abhängig waren. Syrien und der Libanon wurden durch französische Kolonialplanung geschaffen.

Dass die Staaten, die auf diese Weise geschaffen wurden, innenpolitisch schwach, uneinig, oft einander wechselseitig spinnefeind, konfessionell gespalten und außenpolitisch unbedeutend sein würden, war nicht nur ein aus Sicht der Westmächte angenehmer Nebeneffekt der Zerschlagung des Osmanischen Reiches. Es erleichterte es ihnen auch, diese gegeneinander auszuspielen und sich selbst lukrative Wirtschaftsdeals gegen die Gewährung von Schutz und Rüstungsgütern zu sichern.

"Teile und herrsche" als grundlegende Strategie

Wie sich die Länder politisch entwickeln würden, war dabei bestenfalls zweitrangig. Das Beispiel Saudi-Arabien zeigt deutlich, dass die westlichen Demokratien keine grundsätzlichen Probleme mit fundamentalistischen Regierungen haben, die Extremismus exportieren und deren Umfeld teilweise sogar offen Terrorismus unterstützt, solange diese den billigen Zugriff auf die Rohstoffvorkommen zulassen und außenpolitisch niemandem in die Quere kommen, dem sie nicht in die Quere kommen sollten.

Nur wenige Jahre, nachdem arabische Geheimgesellschaften mithilfe der Briten unermüdlich den Nationalismus geschürt hatten und alle Register zogen, um das Osmanische Reich von innen heraus zu unterminieren, mussten die arabischen politischen Führer erfahren, dass etwa die Levante von Großbritannien gleich drei Parteien versprochen worden war: 1915 in der Korrespondenz des britischen Diplomaten Henry McMahon mit dem Scherifen Hussein den Arabern; 1916 den Franzosen, mit denen man sich die Reste des Osmanischen Reiches aufteilen wollte; und am 2. November 1917 dem späteren Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation, Chaim Weizmann.

In einem von Mark Sykes vorbereiteten Brief versprach der britische Außenminister Balfour diesem, dass auf dem Territorium eine "nationale Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina" eingerichtet werden solle. Diese sollte nach britischem Kalkül eine weitere Pufferzone mit Blick auf den Suezkanal schaffen. Die Kurden wurden übrigens schon damals außen vor gelassen.

Heute gilt das Sykes-Picot-Abkommen nicht nur als abschreckendes Beispiel für willkürliche und zynische westliche Machtpolitik ohne Rücksicht auf Traditionen, Interessen und Befindlichkeiten von Völkern. Vor allem aber ist das Sykes-Picot-Abkommen bis heute die Quelle anhaltender Wut gegen den Westen und der nicht nur in der islamischen Welt weit verbreiteten Überzeugung, dass man westlichen Versprechen nie trauen könne.