von Reinhard Werner
Der in Israel lebende, niederländisch-amerikanische Analyst Jochanan Visser rechnet nicht damit, dass der Krieg in Syrien in absehbarer Zeit zu Ende gehen wird. Im Gegenteil sieht er eine Reihe von Anhaltspunkten, die nahelegen, dass die bewaffneten Auseinandersetzungen im Land weitergehen und möglicherweise neuerlich eskalieren könnten.
In einem Beitrag für das nationalkonservative israelische Nachrichtenportal Arutz Sheva schreibt er zudem, es sei wahrscheinlich, dass auch die israelischen Streitkräfte ihre Operationen gegen proiranische Positionen im Nachbarland ausweiten werden.
In den letzten Wochen hat sich die Anzahl israelischer Militärschläge auf syrisches Hoheitsgebiet wieder erhöht. Das jüngste Beispiel dafür stellen die Angriffe auf eine Einrichtung in der Region Damaskus von Montagnacht dar. Diese richteten sich laut israelischen Militärangaben und Aussagen der in London ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) gegen einen von der Hisbollah betriebenen Raketensilo.
Im Zusammenhang mit den, wie Visser es nennt, "facettenreichen" Bemühungen, den wachsenden iranischen Einfluss in Syrien und ein Vordringen vom Iran unterstützter Milizen entlang Israels Nordgrenze zu bekämpfen, hat die israelische Luftwaffe (IAF) bereits mehr als 100 Militärschläge gegen Ziele in Syrien ausgeführt. Dies sagte IAF-Generalmajor Amir Eschel, der bereits im August 2017 der Jerusalem Post zufolge erklärt hatte, dass die Verhinderung eines iranischen Transfers fortgeschrittener Waffensysteme an die Hisbollah für Israels Streitkräfte von höchster Priorität sei.
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Seit Beginn des Jahres sind die iranischen Ambitionen, Militärbasen in Syrien zu errichten und weitere 100.000 schiitische Milizionäre zu entsenden, Hauptthema einer Reihe von Sitzungen seines Sicherheitskabinetts. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu erklärte, dass sich bereits 125.000 solcher Milizionäre in dem Land befänden.
"Die Westbank zum nächsten Gaza machen"
Zudem hat Israels Regierungspressebüro Meldungen des Kanals 10 bestätigt, wonach Netanjahu in einer proaktiven diplomatischen Offensive mit Großbritanniens Premierministerin Theresa May, dem polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki, Rumäniens Präsident Klaus Johannis und auch mit Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel die israelische Sicht auf die Aktivitäten des Iran in Syrien erörtert hat.
Energieminister Juval Steinitz, der dem Sicherheitsrat angehört, gab dem Armeeradio Galatz gegenüber an, die Bemühungen, den Iran von einer "Übernahme Syriens" abzubringen, könnten "mehrere Jahre" in Anspruch nehmen.
Dr. Eran Lerman, der Vizepräsident des Jerusalemer Instituts für Strategische Studien, hatte im November gegenüber der Jerusalem Post erklärt, über die Hisbollah-Problematik hinaus sei es auch Israels dringendes Interesse, zu verhindern, dass der Iran Jordanien destabilisiert. In diesem Zusammenhang weist er auf eine Aussage des Obersten Geistlichen Führers im Iran, Ayatollah Ali Chamenei, hin, der davon gesprochen hatte, er wolle "die Westbank in das nächste Gaza" verwandeln. Dies impliziere, dass Teheran es anstrebe, über Jordanien einen Zugang zu den umstrittenen Gebieten zu erlangen.
Bereits damals hatte Israels Führung offenbar der russischen Diplomatie im Land eine bedeutende Rolle zugeschrieben. Die intakte Gesprächsbasis zwischen dem Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, und dem syrischen Präsidenten Baschar al-Assad wurde als hilfreiches Instrument betrachtet, um die eigenen Interessen zu kommunizieren. Russland als der einzige Akteur in und um Syrien, der den aktiven diplomatischen Kontakt mit allen involvierten Mächten pflegte, war auch für Netanjahu und dessen Außenminister Avigdor Lieberman als Ansprechpartner unverzichtbar.
Wichtige Rolle der russischen Diplomatie
Vor allem sei die russische Diplomatie, so Lerman, ein Weg, um Israels rote Linien zur Sprache zu bringen. Seth M. Frantzman zitierte Lerman damals in seinem Artikel in der Jerusalem Post, die reale rote Linie sei heute nicht irgendeine Form der Rhetorik darüber, den Iran aus Syrien zu werfen, was nicht realistisch sei, aber
in beschränkterem Umfang gibt es tatsächliche rote Linien, über die wir mit den Russen sprechen können.
Das Treffen zwischen Putin und Assad am 21. November in Sotschi war offenbar eine Gelegenheit, die Netanjahu zu diesem Zweck genutzt hatte. Die kuwaitische Zeitung al-Jarida schrieb damals, Putin habe seinem syrischen Amtskollegen die Nachricht übermittelt, dass Israel mit Blick auf proiranische Milizen auf einen Sicherheitsabstand von mindestens 40 Kilometern von seinen Grenzen bestehe. Einen Tag später begann das Treffen der drei Oberhäupter der Astana-Garantenstaaten Russland, Iran und der Türkei.
Die seither vonstatten gegangenen Entwicklungen haben jedoch eine ungeahnte Dynamik in die Situation gebracht. Auch in Israel werden zunehmend Gedanken laut, der weitgehende russische Truppenabzug, den Präsident Putin im Dezember angeordnet hatte, könnte verfrüht gewesen sein.
Noch im gleichen Monat rückten schiitische Milizen, die mittlerweile in die reguläre syrische Armee eingegliedert waren, während einer Offensive gegen sunnitische Extremisten bis auf vier Kilometer an die Demarkationslinie auf dem Golan vor. Auch die Geländegewinne der regierungstreuen Einheiten in der sunnitisch dominierten Provinz Idlib und in Ghuta sorgen zwar für eine weitere Schwächung sunnitischer Radikal-Islamisten, deren Platz jedoch vielfach pro-iranische Kräfte einnehmen.
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Fake-News über Einsatz in Idlib
Analyst Jochanan Visser sieht jedoch noch eine weitere, sich zuspitzende Risikosituation in Anbetracht der Offensive der syrischen Armee und den verbliebenen Einheiten der russischen Luftwaffe gegen sunnitische Extremisten in Idlib. Die Tatsache, dass in der Stadt Idlib türkische Truppen die Stellung halten und die radikalen Islamisten in der Region die volle Rückendeckung vonseiten der Türkei genießen, könnte auch das Zweckbündnis zwischen Ankara, Moskau und Teheran zur Befriedung Syriens gefährden.
Dieses bis dato durchaus erfolgreiche Gespann war nicht zuletzt vor dem Hintergrund der starken Position der Kurdenverbände entstanden. Diese gewannen im Norden Syriens an Terrain, werden von den USA unterstützt und waren sowohl der Türkei als auch dem Iran ein Dorn im Auge. Nun aber sieht die Türkei in Anbetracht der Regierungsoffensive gegen ihre Proxys in Idlib ihre Felle davon schwimmen. Ihr Außenminister Mevlüt Cavusoglu wirft Assad und der russischen Luftwaffe vor, durch ihr Vorgehen gegen "moderate Rebellen" das Abkommen von Astana zu verletzen. Es hatte im September 2017 den Grundstein für die Errichtung von Deeskalationszonen gelegt.
Am vorigen Dienstag bestellte die Türkei in Anbetracht der Offensive in Idlib den russischen und den iranischen Botschafter ein, um Klarstellungen über die künftigen Schritte der Pro-Assad-Koalition zu einzufordern. Die regierungsnahe islamistische Zeitung Yeni Safak verbreitete gar die Fake-News, der "Islamische Staat" koordiniere mit voller Unterstützung Russlands und des Irans die Offensive gegen die sunnitischen Radikalen in der Provinz.
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Auch zwischen der Türkei und dem Iran offenbaren sich immer mehr Sollbruchstellen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der selbsternannte Beschützer der sunnitischen Araber in Syrien, hat sich kürzlich sogar wieder einmal als möglicher "Befreier Jerusalems" ins Gespräch gebracht. Er hatte bereits kurz nach Abschluss des Abkommens angeboten, seine Armee als Wahrer der Vereinbarung bis an den Golan zu verlegen.
Der Iran war über dieses Ansinnen wenig begeistert. Teheran spekuliert auf die Errichtung eines eigenen Flottenstützpunkts an der Mittelmeerküste südwestlich von Idlib und will die protürkischen radikalen Sunniten in Schach halten. Diese haben seit der russischen Ankündigung, den Großteil der Truppen zurückzuziehen, wieder Morgenluft gewittert und in den letzten beiden Wochen sogar Terroranschläge auf die Luftwaffenbasis Hmeimim und auf eine Hafenanlage verübt.
Gipfel in Sotschi: Friedensprozess am Scheideweg
Die Drohnen, die dabei zur Anwendung kamen, wurden von Muwazarra aus gestartet, einem etwa 80 Kilometer von der russischen Luftwaffenbasis entfernten sunnitischen Dorf unter Kontrolle der Islamisten. Analyst Visser mutmaßt in seinem Beitrag für Arutz Sheva sogar, der Angriff sei auf Anordnung Erdogans selbst erfolgt.
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Der für den 30. und 31. Januar geplante Syrische Friedensgipfel in Sotschi wird zeigen, ob der Friedensprozess den zunehmenden Spannungen zwischen der Türkei auf der einen und der von Russland und dem Iran getragenen Pro-Assad-Koalition auf der anderen Seite standhalten kann.
Israel, so Visser, geht seinerseits davon aus, dass unabhängig vom Ausgang des Gipfels der Iran unbeirrbar daran weiterarbeiten wird, Syrien vollständig durch seine Proxy-Milizen zu übernehmen und das Land in einen weiteren Satellitenstaat umzuwandeln. Die in Rede stehende massive Aufstockung der Zahl an Milizionären solle dabei helfen, vollendete Tatsachen zu schaffen.
Der Generalstabschef der Israelischen Streitkräfte, Gadi Eisenkot, spricht von einer "multidimensionalen" Bedrohung durch den Iran und geht allein von 1,5 Milliarden US-Dollar an Finanzmitteln aus, die Teheran seinen Verbündeten im Irak, in Syrien, im Libanon und im Jemen zukommen lasse.
Arutz Sheva schreibt, die Luftschläge von Anfang letzter Woche, Berichte über stetige Vorwärtsbewegungen der Hisbollah in Richtung Grenze entlang des Golan, Netanjahus diplomatische Offensive und die Serie an Treffen des Sicherheitskabinetts seien ein Signal Israels, wonach das Land "die Geduld verliere mit der Passivität der Welt angesichts der aggressiven Schritte des Iran in Syrien". Es mehrten sich die Anzeichen, dass ein groß angelegter Einsatz der Armee bevorstehen könnte.
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