Katars Gaspipeline durch Syrien: Mythos und Wirklichkeit

In der Nachrichtenflut rund um Syrien tauchen auch Gerüchte um die Frage des Baus einer Onshore-Gaspipeline von Katar in die Türkei und weiter nach Europa auf und ob das Ziel von Russlands Militäreinsatz war, diesen zu verhindert. Unser Autor versucht, die Spreu der Gerüchte vom Weizen der Wahrheit zu trennen.

Von Sergei Sawtschuk

Die im Rahmen der neuen Realität in Syrien stattfindenden Ereignisse haben eine Flut von Äußerungen, Fantasien und Gerüchten in die Informationslandschaft gebracht. So erklärte das türkische Staatsoberhaupt, Ankara werde sich bemühen, brüderliche Beziehungen zur verbliebenen Bevölkerung von Damaskus, Aleppo, Idlib und Raqqa aufzubauen.

Doch im russischen Informationsraum wurde diese Rede mit Untertiteln veröffentlicht, in denen Recep Tayyip Erdoğan angeblich über die Eingliederung dieser Regionen in die Türkei als Provinzen wie Antep, Hatay und Urfa spricht. Die Frage des Baus einer Onshore-Gaspipeline von Katar in die Türkei und weiter nach Europa tauchte ebenfalls in der Nachrichtenflut rund um Syrien auf und wurde zum Gegenstand heftiger Diskussionen.

Früher kursierte das weit verbreitete Gerücht, dass die Verhinderung des Pipelinebaus fast einer der Hauptgründe für die Militärhilfe Russlands an Baschar al-Assad war und dass dies dazu beitrug, die russische Gashegemonie auf dem Markt der Alten Welt aufrechtzuerhalten.

Die Idee dieser Gaspipeline an sich stellt ein Beispiel für ein extrem hartnäckiges Gerücht dar, das fast schon zur Realität geworden ist. Trennen wir also die Spreu des Hypes vom Weizen der Wahrheit.

Vorab ist zu erwähnen, dass die Diskussion über den Bau einer Gaspipeline von Katar nach Europa mehrere Jahre vor dem Arabischen Frühling stattfand, d. h. Mitte bis Ende der 2000er-Jahre. Damals herrschte in der gesamten Region ein ziemlicher Frieden, die USA hatten sich bereits fest im Irak eingenistet, gegen den Iran wurde noch kein Gesamtsanktionspaket verhängt (Teheran spielte auf dem Energiemarkt weitgehend ungehindert mit), Syrien war noch unzerstört und geeint, der Gazastreifen und der Südlibanon standen nicht in Flammen, und persische Raketen flogen nicht über jordanisches Territorium.

Dabei wurden zwei Optionen für die Verlegung der Gaspipeline besprochen, allerdings nur in mündlicher Form. Die erste Gasroute sollte von Katar über Saudi-Arabien auf dem kürzesten Weg in den Irak und dann in die Türkei führen. In der zweiten Option sollte die Gaspipeline durch Saudi-Arabien, dann durch Jordanien nach Syrien und anschließend wieder in die Türkei verlegt werden. Spekuliert wurde auch über den Bau eines LNG-Verflüssigungsterminals an der syrischen Küste, um das Gas anschließend auf dem Seeweg nach Europa zu transportieren.

Doch sowohl damals als auch Ende 2024 blieben all diese Optionen nur in der Theorie und wurden nicht in einem unterzeichneten verbindlichen Dokument verankert. Dafür gibt es allerdings eine Vielzahl objektiver Gründe und unlösbarer Probleme.

Erstens wurde bei der Konzipierung der Gaspipeline-Routen aus irgendeinem Grund vergessen, die Meinung Saudi-Arabiens als Besitzer des wichtigsten Logistikzentrums einzuholen. Ebenso wenig wurde berücksichtigt, dass Riad 2017 die diplomatischen Beziehungen zu Doha teilweise und 2019 bereits vollständig abbrach.

Die Saudis warfen diesem Nachbarland die absichtliche Förderung und Konsolidierung verschiedener Terroristengruppen vor, deren Ziel in der Destabilisierung der Region und dem Sturz der derzeitigen saudischen Dynastie besteht. Mit Unterstützung der Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrains verhängte Saudi-Arabien eine Handelsblockade gegen Katar und forderte den Abbruch der Beziehungen zum Iran sowie die Räumung eines türkischen Militärstützpunkts. Dieser Angriffspunkt wurde von den Saudis perfekt gewählt, da 80 Prozent der Lebensmittel für Katar über Saudi-Arabien geliefert werden. Infolgedessen kam es in dem Land zu einer echten Lebensmittelkrise, der Preis für katarisches Öl sank, und die Landeswährung Rial verlor an Wert und fiel auf ein Zehnjahrestief.

Zwar wurde der Flugverkehr zwischen den beiden Ländern 2021 wieder aufgenommen, doch die Beziehungen sind immer noch alles andere als herzlich.

Zweitens demonstrierte Doha nie seine Absicht, auf Gaslieferungen über Pipelines umzusteigen. In den letzten zwanzig Jahren verdreifachte Katar seine eigene Flüssigerdgas-Kapazität. Die 65-Milliarden-US-Dollar-Investition soll die Produktion von derzeit 77 Milliarden Kubikmetern bis 2030 auf 142 Milliarden Kubikmeter steigern. Im selben Zeitraum sollen sechs QC-Max-Megatanker vom Stapel laufen. Dieser Auftrag wird von der chinesischen Schiffbaugesellschaft CSSC ausgeführt, und nach Erfüllung des Kontrakts wird Katar über eine eigene Flotte von 128 Gastankern verfügen, darunter die oben erwähnten 24 QC-Max-Megatanker. Insgesamt investierte Katar bereits über acht Milliarden US-Dollar in den Flottenbau.

Drittens ist nicht klar, auf wessen Kosten dieses ganze "Erdgaspipeline-Bankett" gehen soll. Katar investiert in die Entwicklung von LNG und Gastankern, während der Löwenanteil seiner Exporte in den asiatisch-pazifischen Raum geht. Die Türkei als potenzieller Hauptnutznießer befindet sich im Sturm der 70-prozentigen Inflation. Von der Europäischen Union und ihren Unternehmen – die wohl am meisten an der Versorgung mit preisgünstigem Pipelinegas interessiert sind, um dadurch ihre schwächelnden Wirtschaften zu retten – ist nichts zu hören. Doch der Pipelinebau dauert Jahre, und für jedes derartige Projekt werden Bankkredite mit einer Mindestlaufzeit von zehn bis 15 Jahren aufgenommen. Die Banken wollen sich jedoch nicht selbst schaden und verlangen vor der Kreditgewährung die Vorlage bereits unterzeichneter langfristiger Verträge, die den Betrieb der Infrastruktur, d. h. die Amortisation, gewährleisten sollen.

Weltweit werden heute alle LNG-Projekte ausnahmslos nach diesem Algorithmus gebaut. In den USA beispielsweise kam der Bau neuer Verflüssigungslinien in Texas im letzten Jahr der Biden-Regierung zum Stillstand. Aus demselben Grund änderte sich auch die Rhetorik Washingtons, das die Tatsache ignoriert, dass die EU nur durch Spot-Erdgas gerettet werden kann, und stattdessen die europäischen Gasbetreiber zum Abschluss von Langfristverträgen drängt.

Viertens kann heute niemand die Sicherheit kritischer Einrichtungen in Syrien garantieren, wo die physische Demontage von Staatseinrichtungen und Machtvertikalen im Gange ist: Die an die Macht gelangte Opposition kontrolliert in begrenztem Umfang nur die großen Städte, während in allen anderen Gebieten ein unkontrolliertes Bewaffnungschaos herrscht.

Ein weiterer nicht zu vernachlässigender Faktor sind die Kurden, deren Bevölkerungsanzahl in der Türkei und in den syrischen Grenzgebieten etwa 28 Millionen beträgt. Das entspricht in etwa der heutigen Bevölkerung der Ukraine. Politisch befinden sich die Kurden in einer dreiseitigen Zange: Einerseits werden sie von protürkischen Gruppen unter Druck gesetzt, andererseits werden sie ständig von Ankara bedroht, und drittens mischen sich die USA aktiv ein, die dort im Trüben fischen. An eine friedliche Lösung dieses seit Langem bestehenden Problems ist nicht zu denken, weshalb die Realisierung jeglicher Projekte zugunsten der Türkei in unmittelbarer Reichweite der bewaffneten kurdischen Formationen höchst zweifelhaft ist.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Nahe Osten seinen Ruf als historisch brodelnder Hexenkessel voll und ganz verdient hat, und sollte das Gaspipeline-Projekt jemals verwirklicht werden, dann sicher nicht in absehbarer Zukunft.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 17. Dezember 2024 zuerst auf RIA Nowosti erschienen.

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