Was wollen die Palästinenser? George Rashmawi erklärt ihre Geschichte und Ziele

Im ersten Schritt werde ein palästinensischer Staat aufgebaut, der die Gebiete Gazastreifen, Westjordanland und Ostjerusalem umfasst. Das strategische Ziel sei aber "ein einheitlicher demokratischer Staat auf ganz Palästina, für alle seine Bürger, unabhängig von ihrer Religion oder Rasse".

Von Felicitas Rabe

Bei der Diskussionsveranstaltung "Für einen gerechten Frieden im Nahen Osten" auf den UZ-Friedenstagen in Berlin beantwortete der Vorsitzende der "Union der palästinensischen Gemeinden, Institutionen und Aktivitäten in Europa", George Rashmawi, am 24. August viele Fragen eines äußerst interessierten Publikums. Anhand der hohen Teilnehmerzahl – der Münzenberg-Saal im ehemaligen "Neues Deutschland"-Haus war trotz der hochsommerlichen Temperaturen voll besetzt – ließ sich erkennen, welchen Wissensbedarf zur geopolitischen und sozialen Lage in Palästina selbst politisch informierte Menschen haben. 

Hoffnung, dass die Weltbevölkerung Druck auf ihre Regierungen ausübt, um Palästina zu befreien

Im Rahmen der Einführung wies der Moderator Günter Pohl darauf hin, dass die Vorsitzende der Kommunistischen Partei Israels (CPI), die auch an der Diskussion teilnehmen wollte, leider nicht kommen konnte. Die CPI sei die einzige Partei in Israel, in der sowohl Palästinenser als auch Israelis beteiligt wären. Zudem bewerte sie den Krieg in Palästina nicht als ethnisch-religiösen Konflikt, sondern als Klassenkonflikt, und das Verhalten des israelischen Militärs als "Verbrechen einer faschistischen, rechts gerichteten israelischen Regierung", verdeutlichte Pohl die Position der israelischen Kommunisten.

Der palästinensische Arzt George Rashmawi erklärte zu Beginn seiner Präsentation: Nach dem Angriff der palästinensischen Widerstandsgruppen und dem darauffolgenden Völkermord an den Menschen in Gaza schaue nun die ganze Welt auf Palästina. Kürzlich habe der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag festgestellt, dass Israel mit dem Völkermord in Palästina aufhören muss. Infolgedessen hoffe man darauf, so Rashmawi, "dass die Weltbevölkerung zunehmend Druck auf ihre jeweiligen Regierungen ausübt, um dem palästinensischen Volk zu seiner lang ersehnten Freiheit zu verhelfen". Das Land des palästinensischen Volkes werde seit 76 Jahren besetzt. Dieses Volk werde für seine Freiheit kämpfen, koste es, was es wolle!

Netanjahu-Plan für eine "Endlösung in Palästina"

Währenddessen setze die Regierung Netanjahu ganz klar auf "eine Endlösung des palästinensisch-israelischen Konflikts um Palästina". Der israelische Ministerpräsident nutze dafür den Begriff "die Entscheidung", zitierte Rashmawi die Worte des israelischen Staatschefs. Benjamin Netanjahu meine damit, dass die Bewohner des Gazastreifens und des Westjordanlands drei Alternativen zur Auswahl hätten:

"Die erste Alternative besteht darin, das Land freiwillig zu verlassen, die zweite Alternative bedeutet, unter israelischer Herrschaft als Sklaven zu leben, wie es vormals in Südafrika war, und als dritte Alternative gebe es Gefängnis oder den Tod für diejenigen, die Widerstand leisten."

Rashmawi erinnerte daran, dass die Menschen im Gazastreifen seit 2007 von Israel hinter Mauern eingekesselt werden. Seit dem 7. Oktober seien 80 Prozent der Häuser in Gaza von der israelischen Armee zerstört, mehr als 40.000 Menschen ‒ davon 70 Prozent Frauen und Kinder ‒ getötet und mehr als 90.000 Palästinenser verletzt worden. "Und wie reagiert die Welt?", fragt der Mediziner und stellt fest:

"Die westlichen Staaten, die die Welt tagtäglich über Menschenrechte und Demokratie belehren, haben ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie schauen zu, wie ein Volk unterdrückt und geschlachtet wird, ohne sich die Mühe zu machen, Druck auf Israel auszuüben, damit Israel mit dem Genozid im Gazastreifen aufhört."

Daran könne man erkennen, dass die ganze westliche Moral eine einzige Heuchelei sei. Es gehe beim Krieg in Palästina nicht um irgendwelche Menschenrechte, es gehe nur um wirtschaftliche Interessen des Westens. Nach seinem prägnanten Einführungsvortrag bat George Rashmawi das Publikum darum, ihm Fragen zu stellen.

Die Hannibal-Doktrin des israelischen Militärs

Umgehend wollte ein Teilnehmer wissen, was die sogenannte "Hannibal-Doktrin" des israelischen Militärs (IDF) bedeute. Gemäß der Hannibal-Doktrin sei den IDF-Soldaten nach dem 7. Oktober alles erlaubt. Rashmawi dazu:

"Es ist alles erlaubt für die israelische Armee. Es handelt sich um eine 'Vogelfrei-Erklärung' der Menschen in Gaza."

Die IDF-Soldaten könnten demnach sowohl palästinensische bewaffnete Widerstandskämpfer als auch unbewaffnete palästinensische Zivilisten ermorden, ohne später eine Strafe oder Klage zu befürchten. Die bewaffneten Aktionen der palästinensischen Widerstandskämpfer richteten sich hauptsächlich gegen die israelischen Soldaten und Siedler im Westjordanland, von denen rund 100.000 selbst bewaffnet seien.

Welches wirtschaftliche Interesse hat die Bundesrepublik am Konflikt?

Schon bei der von Großbritannien ausgehandelten Balfour-Erklärung vom 2. November 1917 sei es weniger um die Schaffung einer "nationalen Heimstätte für das jüdische Volk" gegangen, wie es offiziell heißt, sondern Hauptmotiv bei der Gründung Israels sei von Anfang an die Kontrolle über Öl und Gas in der Region gewesen, erklärte Rashmawi.

Das sei damals auch im deutschen Interesse gewesen. Aufgrund von Hitlers Terror gegenüber den europäischen Juden trage Deutschland seit 1936 zusätzliche Verantwortung für die Einwanderung der Juden nach Palästina. Allerdings hätten Palästinenser und Juden in den ersten Jahren ab 1936 ganz friedlich zusammengelebt. Nicht von Anfang an habe es Mord und Totschlag gegeben. Erst mit der israelischen Staatsgründung im Jahr 1948 hätte sich Israel "als reiner Apartheidsstaat etabliert". Und bis heute erkläre Benjamin Netanjahu: "Das ist unser von Gott gegebenes Land – vom Jordan-Fluss bis zum Mittelmeer."

Wie wird die politische Lösung des Konflikts aussehen? Eine Zweistaatenlösung?

Grundsätzlich sei von der UNO 1947 ein Teilungsplan vorgeschlagen worden, der einen jüdischen Staat auf 56 Prozent und einen palästinensischen auf 44 Prozent des Landes vorgesehen habe. Israel habe aber nach dem Krieg im Jahre 1948 rund 78 Prozent der Fläche Palästinas erobert und sich nicht an den Teilungsplan von 1947 gehalten. Im Mai 1948 sei der Staat Israel auf palästinensischem Boden ausgerufen worden. Der palästinensische Staat hingegen wartet bis heute auf seine Befreiung, erklärte Rashmawi die Geschichte seines Landes.

Die Gebiete Gazastreifen, Westjordanland und Ostjerusalem umfassen 22 Prozent des historischen Palästina und seien 1967 von der israelischen Armee besetzt worden. Somit müsse Palästina in zwei Schritten befreit werden, denn aufgrund der aktuellen Kräfteverhältnisse könne es nicht sofort einen Staat auf dem ursprünglichen Gebiet Palästinas geben. Die UNO und 148 Staaten haben Palästina in den Grenzen von 1967 anerkannt. Und kürzlich haben auch fünf europäische Staaten Palästina als Staat anerkannt, darunter Spanien, Norwegen, Irland und Slowenien.

Demnach werde im ersten Schritt ein palästinensischer Staat auf dem Gebiet errichtet, das seit 1967 von Israel militärisch besetzt ist: auf dem Gazastreifen, dem Westjordanland und Ostjerusalem als Hauptstadt. Gleichzeitig gelte das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre Heimat. Dies sei aber nur der erste Schritt. George Rashmawi erklärte das weitere Ziel:

"Später wird mit den demokratischen Kräften in Israel ein einheitlicher demokratischer Staat in ganz Palästina aufgebaut, ein demokratischer Staat für alle seine Bürger, unabhängig von ihrer Religion oder Rasse. Das ist unser strategisches Ziel."

Welche Rolle spielt dabei die Hamas?

Auf einer Konferenz in Peking Ende Juli vereinbarten 14 palästinensische Gruppen und Organisationen unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung, gemeinsam für einen Staat auf dem besetzten Gebiet von 1967 zu kämpfen. Sie würden die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) als ihre legitime und einzige Vertretung anerkennen. Diese Vereinbarung sei auch von der Hamas unterschrieben worden. Für den Frieden müsse Israel das ganze besetzte Gebiet räumen, sei ihre gemeinsame Forderung.

Zur Haltung der deutschen Linken und Gewerkschaften

Die deutschen Linken und die deutschen Gewerkschaften seien prozionistisch. Zunächst einmal müsse die israelische Arbeiterschaft mit ihrem zionistischen Regime brechen.

Zur Zerstörung der palästinensischen Bildungseinrichtungen

Im Gazastreifen seien fast alle Schulen und Universitäten bombardiert und über 1.100 Lehrer und Professoren getötet worden. Netanjahu wolle bewusst die palästinensische Bildungselite ermorden. "Wenn man ein Volk verdummen will, muss man die Bildungselite auslöschen", so Rashmawi. Die palästinensischen Schulbücher würden in Bezug auf ihre Inhalte von der EU kontrolliert – der Schulbildung in Palästina werfe man antiisraelische Propaganda vor. Demgegenüber würden die israelischen Schulbücher nicht kontrolliert, erläuterte der Mediziner das Vorgehen der israelischen Regierung.  

Sind zivile Beobachter aus dem Ausland eine Unterstützung?

Im Gazastreifen könne es aufgrund des Kriegs keine zivilen Beobachter geben. Aber im Westjordanland seien zivile Beobachter willkommen, insbesondere bei der kommenden Olivenernte. Es bestehe die Hoffnung, dass die Bauern vor den Augen von zivilen Beobachtern aus dem Ausland ihre Olivenernte einbringen könnten und nicht permanent von israelischen Siedlern dabei behindert würden. Am Ende appelliert George Rashmawi an das Publikum in Berlin:

"Wir brauchen euren Mut und wir brauchen euren Druck auf den faschistischen Staat Israel – der keine Versöhnung sucht und noch nicht einmal in einen Waffenstillstand zur Freilassung der Geiseln und der palästinensischen Gefangenen einwilligt."

Mehr zum Thema ‒ WHO: Israel stimmt Feuerpausen für Impfungen in Gaza zu