Algerien hat die Hand am Gashahn: Die Bedeutung der einstigen französischen Kolonie wächst

Algier spielt eine immer größere Rolle für die Energiesicherheit in der EU und bewegt sich in Richtung wirtschaftlicher Souveränität. Seine politischen Interessen bringen es aber immer wieder in Widersprüche mit möglichen Konkurrenten.

Von Tamara Rischenkowa

Im Frühjahr 2022, im Gefolge des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine, begann die EU, darüber nachzudenken, russische Gaslieferungen aufzugeben und den Energieverbrauch so weit wie möglich zu verringern. EU-Länder fingen an, sich andernorts umzusehen, und eines der Länder, auf das sie sich konzentrierten, war Algerien.

Jetzt, zwei Jahre später, ist Algerien der größte Lieferant von Pipeline-Gas in der EU und hält weiterhin die führende Stellung in Afrika in der Produktion und dem Export von Erdgas. Aber seine Haltung in einer Reihe internationaler Fragen bedroht nun die Lieferungen nach Europa, und die Länder des europäischen Mittelmeerraums müssen außenpolitische Kompromisse schließen, um eine so wichtige Energiequelle nicht zu verlieren.

Anfang Juni meldete die spanische Energiegesellschaft Enagas, Algerien sei sechs Monate in Folge der größte Gaslieferant Spaniens gewesen, vor dem ehemaligen Spitzenlieferanten USA.

Laut Enagas exportierte Algerien im letzten Mai insgesamt 10.267 Gigawattstunden (etwa 973 Millionen Kubikmeter) nach Spanien, 33,6 Prozent der gesamten Erdgasimporte des Landes. Russland und die Vereinigten Staaten folgen, mit 22,7 und 13,8 Prozent. Dieses Verhältnis blieb seit Jahresanfang relativ stabil. Die Importe amerikanischen LNG-Gases fielen auf den dritten Platz und haben sich im Verhältnis zum Frühjahr 2023 halbiert.

Gas für Europa

Algerien bleibt der wichtigste Gaslieferant für Europa, vor allem für den Mittelmeerraum. 2023 überholte es Russland, um der zweitgrößte Lieferant von Pipelinegas in die EU nach Norwegen zu werden. Das hat die Rolle des afrikanischen Landes bei der Stärkung der europäischen Energiesicherheit weiter gefestigt.

Algerien schickt 85 Prozent seiner Gasexporte nach Europa und arbeitet daran, seine Rolle als Pipelineexporteur zu verstärken, indem es bis 2028 50 Milliarden US-Dollar in diese Industrie investiert. 2024 hat die Regierung bereits 8,8 Milliarden US-Dollar dafür freigegeben, wovon der Großteil in Gaserkundung und -erzeugung geht.

Aus Algerien gehen drei Pipelines nach Italien und Spanien (eine davon ist derzeit nicht in Betrieb), und es gibt ein Projekt, eine vierte aus Nigeria zu bauen. Algerien ist sowohl für Italien als auch für Spanien der größte Gaslieferant. Nach einer Übereinkunft, die 2022 zwischen der italienischen ENI und der staatlichen Öl- und Gasgesellschaft Algeriens, Sonatrach, geschlossen wurde, soll Letztere bis 2026 bis zu 9 Milliarden Kubikmeter Pipelinegas nach Italien liefern.

Kredite sind nicht länger nötig

Im April 2024 setzte der Internationale Währungsfonds (IWF) Algerien auf den dritten Platz seiner Liste der wichtigsten afrikanischen Ökonomien, nach Südafrika und Ägypten; Algerien überholte damit Nigeria, das diesmal auf dem vierten Platz landete. Nach diesem Bericht betrug das BIP Algeriens in diesem Jahr annähernd 266,78 Milliarden US-Dollar, und der IWF erwartet für die kommenden Monate ein Wachstum von etwa 3,8 Prozent.

Anfang Mai sagte der Präsident des Landes, Abdelmadjid Tebboune, Algerien, das nahezu frei von Auslandsschulden ist, werde nichts von internationalen Organisationen borgen. Er merkte an, dass im vergangenen Jahr die Wachstumsrate der algerischen Wirtschaft zwischen 4,1 und 4,2 Prozent gelegen habe, und das BIP Ende 2023 260 Milliarden US-Dollar erreichte. Die Regierung will dies bis 2026 oder 2027 auf 400 Milliarden US-Dollar steigern.

Tebboune sagte außerdem, der algerische Dinar habe verglichen mit harten ausländischen Währungen 4,5 Prozent zugelegt, und "das ist nur der Anfang". Die Währungsreserven des Landes sind auf 70 Milliarden US-Dollar gestiegen, was das Land davon befreit, auf neue ausländische Kredite angewiesen zu sein.

Es sollte angemerkt werden, dass die Währungsreserven des Landes 2019, als Tebboune an die Regierung kam, 42 Milliarden betrugen, und die Importkosten 60 Milliarden. Mehr noch, der Präsident merkte an, Algerien sei entschlossen, seine Einkommensquellen zu diversifizieren und sich von einer 'Rentenökonomie', die auf Öl- und Gasexporten beruht, wegzubewegen.

"2022 sah Algerien das erste Mal seit 40 Jahren einen Rekord im Export von nicht primären Gütern in Höhe von 7 Millionen Dollar, während er zuvor 1,5 Milliarden nicht überstieg", fügte Tebboune hinzu.

Erster Platz in Afrika

Der Bericht der Organisation Arabischer Erdölexportierender Länder (OAPEC) für 2023 besagt, dass Algerien 2023 das erste Mal seit 2010 an erster Stelle bei LNG-Exporten stand und damit Nigeria überholt hat, das die Spitzenposition mehr als ein Jahrzehnt lang hielt. Der Umfang der LNG-Lieferungen aus Algerien ist der höchste in der arabischen Welt.

Der Bericht legt nahe, dass Algerien 2023 seine größte Menge erreichte, als der Gesamtumfang der LNG-Exporte 13 Millionen Tonnen betrug, 26,1 Prozent mehr als 2022.

Neue Felder und Anlagen

Nach Angaben des algerischen Energieministers Mohamed Arkab vor kurzem hat Sonatrach zwischen Januar und Mai 2024 acht wichtige Öl- und Gasfelder im Land entdeckt. Alle sind neue, noch unentwickelte Vorkommen, und die meisten befinden sich in der Provinz Bechar im Südwesten Algeriens, in der Provinz In Salah in der Mitte Algeriens und in den Provinzen Illizi, Djanet und Ouargla im Südosten. Ohne Zahlen zu benennen, merkte Arkab an, dass diese Vorkommen "ein bedeutender Zugewinn zu den belegten nationalen Kohlenwasserstoffreserven sind, insbesondere bei Erdgas".

Der Minister wies darauf hin, dass das Gesetz zu Kohlenwasserstoffen, das 2019 verabschiedet worden war, allgemeine Maßnahmen enthalte, die über den Abschluss großer Verträge mit großen Firmen wie der italienischen Eni, der norwegischen Equinor und der amerikanischen Occidental Petroleum Früchte getragen hätten. In den letzten Wochen hat Algerien außerdem Verträge mit den US-Energieriesen ExxonMobil und Chevron über die Entwicklung mehrerer Öl- und Gasfelder abgeschlossen.

Im Mai unterzeichnete Sonatrach einen Vertrag mit italienischen und amerikanischen Firmen, um drei Gasverarbeitungsanlagen bei dem gigantischen Gasfeld Hassi R’Mel, 550 Kilometer südlich der Hauptstadt Algier, zu errichten Das Ziel des Projekts ist es, die Gasförderung auf dem größten Gasfeld des Landes wie des afrikanischen Kontinents fortzusetzen.

"Algerien ist, was Verträge angeht, ein verlässliches Land, wie auch bei der Lieferung großer Mengen für den europäischen Markt", betonte Arkab.

Sonatrachs heutige Strategie ist, die jährliche Förderung binnen fünf Jahren auf 200 Milliarden Kubikmeter Erdgas zu erhöhen. Nach den Daten des Staatsunternehmens von 2023 beträgt sie derzeit 137 Millionen Kubikmeter.

Trans-Sahara Gaspipeline

Algerien beliefert Europa derzeit durch zwei Pipelines. Die erste, TransMed, verläuft durch das Mittelmeer nach Italien. Diese Route durchquert das Gebiet Tunesiens und hat eine Kapazität von 32 Millionen Kubikmetern pro Jahr. Die zweite, Medgaz, verbindet den Hafen von Béni Saf an der Westküste Algeriens mit der Stadt Almeria in Südspanien. Sie kann bis zu 10 Milliarden Kubikmeter jährlich befördern.

2009 wurde ein Abkommen zwischen Algerien, Niger und Nigeria geschlossen, eine ambitionierte Gaspipeline durch die Sahara zu errichten, die Trans-Sahara-Gaspipeline (TSGP), die Gaslieferungen aus Südnigeria nach Spanien und Portugal durch Niger und Algerien ermöglichen soll. Dieser Plan bleibt jedoch äußerst fragil. Anfang 2024 wurde bekannt, dass das Projekt aufgrund der politischen Lage in Niger, wo im Sommer 2023 ein Militärputsch stattfand, auf Eis gelegt worden war.  Dennoch sagte Energieminister Muhammad Arkab im März, Algerien und Nigeria seien übereingekommen, den Bau fortzusetzen.

Die TSGP mit einer Länge von 4.128 Kilometern soll die nigerianische Hauptstadt Abuja mit der Küste Algeriens verbinden. Die Kosten dieses Projekts werden auf 13 bis 15 Milliarden Dollar geschätzt, die Kosten für den Bau der Pipeline und der Sammelzentren eingeschlossen. Auf einer Pressekonferenz im Anschluss an das siebte Forum der Gasexportierenden Länder (GECF), das vom 29. Februar bis zum 2. März dieses Jahres in Algier abgehalten wurde, sagte Arkab, Nigeria habe seinen Teil des Projekts fast abgeschlossen, und es fehlten nur noch 1.000 Kilometer bis Niger. Im Gegenzug hat Algerien bereits 700 Kilometer der Pipeline gebaut, und es verblieben noch 1.800 Kilometer bis zu seiner Grenze mit Niger.

Man muss allerdings in Betracht ziehen, dass Nigeria sich auch andere Möglichkeiten überlegt, sein Gas nach Europa zu liefern. Seit 2016 wird an der Nigeria-Marokko-Erdgaspipeline gearbeitet, die entlang der westafrikanischen Küste auf dem Boden des Atlantiks verlegt werden soll. Wenn sie fertig ist, wird sie die weltweit längste Unterwasserpipeline sein, mit einer Länge von 5.660 Kilometern.

Für beide, Marokko und Nigeria, bietet diese Pipeline eine Möglichkeit, ihre Wirtschaften zu fördern und den Lebensstandard ihrer Bevölkerung zu erhöhen. Für Algerien jedoch bedeutet das eine Konkurrenz im Rennen um die Stellung des führenden Gasexporteurs.

Lieferungen nach Spanien: zunehmende Spannungen

Die Gasexporte von Marokko nach Spanien haben sich erst vor kurzem normalisiert. In den Jahren davor gab es viele Ereignisse, die fast eine komplette Einstellung zur Folge gehabt hätten. Es ist vor allem Algeriens Außenpolitik und seine Beziehungen mit seinen Nachbarn, insbesondere mit Marokko, mit dem es schon lange eine Auseinandersetzung um den Status der Westsahara führt.

Am 24. August 2021 erklärte Algerien offiziell die Einstellung der diplomatischen Beziehungen zu Marokko, und warf dem Land "feindselige Handlungen" vor, die in der Unterstützung für algerische Rebellengruppen und der Unterstützung von Brandstiftungen in algerischen Wäldern bestünden. Kurz darauf wurden marokkanische Zivil- und Militärflugzeuge aus dem algerischen Luftraum verbannt, und am 31. Oktober wurde die Entscheidung verkündet, einen Vertrag über Gaslieferungen an Spanien über die Maghreb-Europa-Pipeline (MEG), die durch Marokko verläuft, nicht zu verlängern. Stattdessen sollte LNG direkt über die Medgaz-Verbindung geliefert werden. Kurz darauf verbot Algerien Spanien den Weiterverkauf von Gas, das von seinem Gebiet in das Königreich geliefert wird. Diese Entscheidung hat sowohl Madrid als auch Rabat in eine schwierige Lage gebracht, insbesondere angesichts der drohenden Energiekrise in der EU.

Am 9. Juni 2022 stoppte Algerien alle Export- und Importbeziehungen zu Spanien, mit Ausnahme der Gaslieferungen, nachdem es wegen einer Änderung der spanischen Haltung in Bezug auf die Westsahara, die Marokko beansprucht, seinen Vertrag über Freundschaft, gut nachbarschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit suspendierte, der 2002 mit Madrid geschlossen wurde. Die Spannung in den Beziehungen mit Madrid wurde durch ein Schreiben des spanischen Premierministers Pedro Sanchez ausgelöst, das dieser im März 2022 an König Mohammed VI. Von Marokko schickte und in dem er seine Unterstützung für die marokkanische Initiative bekundete, der Westsahara Autonomie zu gewähren.

Im Juli 2024 verkündete Sonatrach die Einstellung der Gaslieferungen nach Spanien wegen einer Beschädigung der Medgaz Hauptpipeline, und erklärte, der Schaden sei "auf der spanischen Seite" aufgetreten. Gleichzeitig hielten die Spannungen zwischen Madrid und Algerien wegen des Reexports von Erdgas nach Marokko an. Algerien hat sich mehrfach gegen den Rückfluss von Gas an das benachbarte Königreich über die MEG Pipeline gewandt, während Madrid argumentierte, dass das Gas, das an Marokko geliefert werde, aus Drittländern stamme.

Momentan haben sich die Gaslieferungen aus Algerien nach Spanien stabilisiert, aber nun sind sie erneut bedroht. Im Mai kündigte Algerien an, es werde die Lieferung an die spanische Gesellschaft Naturgy einstellen, wenn diese ihre Aktien verkaufe. Eine solche Erklärung mag eigenartig wirken, wenn man nicht mit in Betracht zieht, dass Naturgy mit der nationalen Energiegesellschaft von Abu Dhabi (TAQA) verhandelt, und sich Algerien und die Vereinigten Emirate seit mehreren Monaten in einem unerklärten Krieg befinden und einander Feindseligkeit vorwerfen. Die Normalisierung der Beziehungen der VE mit Israel, dessen Staatlichkeit Algerien nicht anerkennt, bleibt der Hauptgrund für Spannungen zwischen den beiden Ländern.

Einen Monat zuvor hatte TAQA erklärt, es befände sich in Verhandlungen mit den drei größten Anteilseignern von Naturgy, die zu einem Kauf der Aktien und einer kompletten Übernahme des größten Gasunternehmens Spaniens führen könnten. Naturgy, das Verträge mit Sonatrach unterzeichnet hat, besitzt Anteile an einer großen Gaspipeline zwischen Algerien und Spanien. Die Führung von Naturgy bestreitet, dass die Aktien verkauft werden könnten, und am 11. Juni erklärte TAQA, dass es ihnen nicht gelungen sei, Aktien der spanischen Gasgesellschaft zu erwerben.

Daher kann Algerien, das von seinen eigenen Interessen geleitet wird, der EU keine völlige Energiesicherheit und Unabhängigkeit von russischen Lieferungen bieten. So kann eine ehemalige Kolonie jetzt mit Europa auf Augenhöhe sprechen, Bedingungen stellen und seine Wirtschaft entwickeln, während sie ihre eigenen Interessen schützt.

Tamara Rischenkowa ist Orientalistin und hat einen Lehrstuhl an der Abteilung für Geschichte des Nahen Ostens an der staatlichen Universität St. Petersburg inne. Sie veröffentlicht Analysen im Telegram-Kanal "Arab Africa".

Aus dem Englischen.

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