"Netanjahu kann zu Biden nicht Nein sagen" – Werden die USA das Blutvergießen stoppen?

Ein Abkommen mit der Hamas könnte den israelischen Ministerpräsidenten in Schwierigkeiten bringen, aber der Druck auf ihn, anzunehmen, steigt. Und auch für Israel wird die Lage zunehmend schwierig. US-Präsident Joe Biden jedenfalls hat gute Gründe, darauf zu drängen.

Von Elisabeth Blade

Mehr als sechs Monate nach dem Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hamas sieht es so aus, als sei ein weiter Handel in Arbeit.

Nach einem von US-Präsident Joe Biden am 31. Mai präsentierten Vorschlag käme es zu einem vollständigen Halt des Kriegs im Gazastreifen, wobei Israel seine Truppen aus den bewohnten Gebieten zurückzieht und den Bewohnern des Gazastreifens erlaubt, in ihre Häuser im Norden der Enklave zurückzukehren. Israel würde zudem eine Erhöhung der humanitären Hilfe erleichtern, die den verarmten Küstenstreifen erreicht. Im Gegenzug würde es die Freilassung einiger seiner Geiseln sehen: die Lebenden und die Toten.

Die Biden-Regierung glaubt, dass die beiden Seiten, sollte sich der erste Schritt als erfolgreich erweisen, weitergehen würden, um den zweiten Schritt des Abkommens umzusetzen: ein dauerhaftes Ende der Feindseligkeiten und die Freilassung der verbliebenen lebenden Geiseln.

Steht eine Übereinkunft vor der Tür?

Der Plan benennt außerdem einen größeren Wiederaufbauplan für den Gazastreifen, der erst im dritten Teil realisiert würde.

"Im Moment sieht es so aus, als gäbe es mehr als eine Fifty-fifty-Chance, dass der Handel durchgeht", sagte Amir Oren, ein politischer Analytiker aus Tel Aviv.

"Erst einmal kann Netanjahu zu Biden nicht Nein sagen, vor allem, weil das von Anfang an sein eigenes Angebot war, und insbesondere, wenn er vor einer gemeinsamen Sitzung im Kongress sprechen will. Und zweitens nimmt der öffentliche Druck zu, weil offenkundig ist, dass der militärische Druck auf die Hamas unsere Geiseln nicht zurück gebracht hat."

Aber Netanjahu könnte auch wegen starken US-amerikanischen Drucks dazu neigen, den Vorschlag anzunehmen.

"Biden will nicht, dass noch etwas aufflammt", sagte Oren und deutete damit an, dass, sollte der Krieg im Gazastreifen weitergehen, ein weiterer Konflikt – der mit der Hisbollah im Norden – ausbrechen könnte, und das "könnte sich sehr wohl zu einem Krieg zwischen Israel und Iran entwickeln".

"Wir sollten nicht vergessen, dass Biden der Nominierungskongress der Demokraten bevorsteht und dann, im November, womöglich der Präsidentenwahlkampf."

"Es gibt eine Menge Groll im linken Flügel der Demokraten wegen dem, was im Gazastreifen geschieht, also bringt ihm eine Übereinkunft Punkte. Für ihn ist es beinahe entscheidend, dass, wenn es an die Wahlen im November geht, im Gazastreifen Ruhe und Frieden herrscht, ebenso wie an der israelisch-libanesischen Grenze."

Dr. Saad Nimr, ein in Ramallah ansässiger Experte für israelisch-palästinensische Beziehungen, stimmt zu, dass diesmal die Biden-Regierung ziemlichen Druck auf Israel ausübt, um es zur Annahme eines Abkommens zu zwingen.

Nicht nur wegen der Massendemonstrationen an den Universitäten quer durch die USA oder der Unzufriedenheit mit Bidens Politik innerhalb seiner eigenen Partei – sondern auch wegen des zunehmenden Drucks, der von den engen Verbündeten der USA in Europa kommt.

Ende Mai hatten drei europäische Staaten – Norwegen, Spanien und Irland – Palästina trotz des Drucks der USA, dies zu unterlassen, anerkannt. Am Donnerstag folgte Slowenien, und eine Reihe weiterer Länder hat zugesagt, bald ähnliche Schritte zu unternehmen, und zeigen, dass sie unabhängig von US-Interessen handeln werden.

"Das ist ein schwerer Schlag für Bidens Außenpolitik, und er will vor den Wahlen das Gesicht wahren. Aber ob diese äußeren Faktoren ausreichen, um Israel zu einem Ende des Kriegs zu zwingen? Ich bin mir nicht ganz sicher", sagte Nimr.

Risse in der Koalition

Einer der Hauptgründe dafür ist der Druck, den Netanjahu aus seiner eigenen Koalition erhält, glaubt Nimr.

Wenn er eine Übereinkunft mit der Hamas schließt, ist er angreifbar für die Falken seiner eigenen Regierung, vor allem Finanzminister Bezalel Smotrich und Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, die beide bereits angekündigt haben, sie würden die Koalition platzen lassen, sollte Netanjahu sich auf ein Abkommen zubewegen.

Aber da ist noch mehr. Netanjahu, sagt Nimr, fürchtet zudem, dass ein Ende des Krieges auch seine politische Karriere beenden und ihn womöglich ins Gefängnis bringen könnte.

"Solange der Krieg weitergeht, bleibt Netanjahu Ministerpräsident Israels. Sobald er vorüber ist, wartet das Gericht auf ihn."

Bereits vor dem Krieg fand ein Verfahren gegen Netanjahu statt, wegen Vertrauensbruchs und Korruptionsvorwürfen in einer Reihe von Bestechungsklagen, in denen es unter anderem um die Annahme von Geschenken eines reichen Spenders und um den Kauf günstiger Medienberichterstattung ging. Nach den Ereignissen des 7. Oktober wurden die Verhandlungen unterbrochen, und selbst, als sie wieder aufgenommen wurden, argumentierten Netanjahus Anwälte, die Kriegsanstrengungen hinderten ihn daran, sich um irgendetwas anderes zu kümmern als um die Sicherheitslage. Jetzt, sollte der Krieg enden und Netanjahu keine Entschuldigung mehr haben, würde das Verfahren weitergehen, und das ist etwas, das er verhindern zu wollen scheint.

Es wäre aber nicht das einzige Verfahren für Netanjahu. Der Ministerpräsident hat bereits eingestanden, dass er, zusammen mit anderen Regierungsmitgliedern und dem Militär, für die Ereignisse des 7. Oktober verantwortlich ist. Sie haben die Bedrohung durch die Hamas übersehen und dann zu langsam reagiert, als der Angriff geschah. Die israelische Öffentlichkeit wird sie zur Verantwortung ziehen wollen. Sie will womöglich auch viele von ihnen hinter Gittern sehen, eingeschlossen Netanjahu.

"Darum glaube ich, sie werden es weiter verzögern und einen Handel hinausschieben. Und selbst wenn eine Übereinkunft erzielt wird, wird es vorübergehend sein. Es wird Netanjahu ermöglichen, dem Druck, sowohl im eigenen Land als auch international, auszuweichen, und wenn das geschafft ist, wird Israel sein Bombardement des Gazastreifens wieder aufnehmen", sagt Nimr voraus.

Das scheint auch zu sein, was die israelische Bevölkerung will. Im Februar veröffentlichte Kanal 14 – der den rechten Kreisen nahesteht – eine Umfrage, nach der mehr als 60 Prozent der Israelis eine Fortsetzung des Krieges im Gazastreifen unterstützen, selbst wenn das heißt, sich von der Idee einer Rückkehr der 124 Geiseln zu verabschieden.

Für viele Israelis wird der Einsatz im Gazastreifen erst vollständig sein, wenn die Hamas ausgelöscht ist und die Enklave keine Bedrohung für Israels Sicherheit mehr darstellt. Aber so, wie es acht Monate nach Kriegsausbruch steht, sind diese Ziele noch weit entfernt.

Auch wenn Israel die Kontrolle über die Philadelphi-Passage übernahm und damit den Sauerstoff abschnitt, der die Hamas mit der Welt außerhalb verband, durch den die Gruppe Waffen, Geld und Kämpfer schmuggelte, ist es der islamischen Gruppe gelungen, auf den Füßen zu bleiben. Sie schießt weiter Raketen, die imstande sind, das Zentrum Israels zu erreichen, und sie rühmt sich immer noch, mindestens 15.000 Kämpfer zu besitzen, die bereit sind, in den Kampf gegen den jüdischen Staat einzusteigen.

"Yahya Sinwar [der Anführer des militärischen Flügels der Hamas im Gazastreifen] ist an einer Fortsetzung des Krieges nicht interessiert. Er möchte den Menschen im Gazastreifen, von denen bereits mehr als 36.000 den Tod gefunden haben, eine Pause gönnen, aber er wird so lange weiter kämpfen, wie es Israel tut."

Licht am Ende des Tunnels?

Die Frage ist, wie lange Israel imstande ist, auf diese Weise weiterzumachen. Seit Anfang des Kriegs hat es mehr als 600 Soldaten verloren. Tausende wurden verwundet, und viele sind in kritischer oder ernster Verfassung. Psychologische Probleme haben ebenfalls zugenommen. Der Zustand der Wirtschaft verschlechtert sich, und die Preise für Nahrungsmittel, Treibstoff, Wohnung und Transport schießen in die Höhe wie nie zuvor.

"Früher oder später wird Israel diesen Krieg beenden müssen, weil es sich ihn einfach nicht leisten kann. Der Gazastreifen wurde für sie wie ein Schwamm. Sie bluten wirtschaftlich und sozial", sagte Nimr.

"Aber sie müssen es mit irgendeiner Art Sieg beenden. Dieser Sieg kann nicht vom Schlachtfeld kommen, weil die Hamas immer noch da ist. Also verlassen sie sich auf die USA, ihnen eine diplomatische Lösung zu schaffen."

Elisabeth Blade ist Nahost-Korrespondentin von RT.

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