Von Susan Bonath
Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst, heißt es. Propaganda für die jeweils unterstützte Seite ist angesagt. Ob es um die Ukraine oder nun Israel geht: Der Springer-Verlag und die Deutsche Presseagentur (dpa) sind immer vorne mit dabei. Nach den gestreuten, unbewiesenen Meldungen über angeblich 40 von der Hamas geköpfte Babys scheute sich der stellvertretende Chefredakteur des Springer-Boulevardblatts Bild, Paul Ronzheimer, nun nicht, auch den Tod der jungen Deutsch-Israelin Shani Louk auszuschlachten.
Ronzheimer verbreitete – nicht zum ersten Mal – die Gräuelpropaganda der israelischen Seite. Hamas-Terroristen hätten die 22-jährige Louk enthauptet, man habe ihren Schädel gefunden, so seine Schlagzeile in der Bild am 30. Oktober. Das habe ihm der israelische Staatspräsident Jitzchak Herzog im Interview gesagt. Sofort sprangen dpa und zahlreiche Medien darauf an. Nur offensichtlich stimmt das nicht. Die Mutter des Opfers widerspricht dieser Darstellung, und auch die Indizien zeigen, dass sie wohl erschossen wurde.
Vom Splitter zum "ganzen Schädel"
Shani Louk war eins der Opfer des grausamen Hamas-Angriffs am 7. Oktober auf feiernde Israelis nahe der Grenze zum Gazastreifen. Lange glaubte Louks Familie, sie sei nach Gaza entführt worden und noch am Leben. Denn es gab ein Video, das die 22-Jährige liegend auf einem Pick-up zeigte. Es deutete jedoch bereits auf schwere Kopfverletzungen hin. Die Hoffnung: Louk werde vielleicht in einem Krankenhaus in Gaza behandelt. Doch vermutlich war die junge Frau auf diesen Fotos bereits tot.
Am Morgen des 30. Oktober erhielt Louks Familie die erschütternde Nachricht: Die junge Frau sei nicht mehr am Leben. Ihre Mutter wandte sich an die Presse: Man habe den Splitter eines Schädelknochens mittels einer DNA-Analyse ihrer Tochter zuordnen können. Sei dieser Knochen verletzt, könne ein Mensch nicht überleben. Die Mutter sprach von einem Kopfschuss und sagte: Ihre Tochter sei wohl schnell gestorben.
Am selben Abend gab der israelische Staatspräsident Jitzchak Herzog Paul Ronzheimer von der Bild ein Interview. Demnach habe man nicht nur einen Schädelsplitter, sondern den gesamten Schädel der Getöteten gefunden. Wörtlich sagte Herzog:
"Das bedeutet, dass diese barbarischen, sadistischen Tiere ihr einfach den Kopf abgehackt haben, als sie Israelis angriffen, folterten und töteten."
Von Springer zur dpa
Ronzheimers machte Herzogs Aussagen zur Tatsachenbehauptung. Diese brachte er auch im zum Springer-Unternehmen gehörenden Boulevardblatt BZ unter. Außerdem schlachtete er die Erzählung in einem Bild-Kommentar aus.
So veranlasste der Bild-Redakteur sogar Bundeskanzler Olaf Scholz zu einer Stellungnahme.
Online-Chefredakteur des Magazins Focus, Florian Festl, übernahm die Gräuelgeschichte ungeprüft und behauptete:
"Die Enthauptung der deutschen Staatsbürgerin durch die Schlächter der Hamas trifft unser Land ins Mark."
Das Springer-Blatt Welt, das sich gerne einen intellektuellen Anstrich gibt, katapultierte die mutmaßliche Lüge in die Überschrift.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die dpa die Meldung bereits verarbeitet. Praktisch alle deutschen Leitmedien haben den Newsletter der großen Nachrichtenagentur abonniert, manche übertragen die Meldungen automatisch auf ihre Webseiten. So machte die Schlagzeile von der Enthauptung des Opfers die Runde.
Beispielsweise titelte das Portal des Ströer-Werbekonzerns t-online unter Berufung auf die dpa-Meldung, Louk "wurde enthauptet". Aber nicht nur der Mainstream, sondern auch als "alternativ" firmierende Medien in Deutschland übernahmen ungeprüft die Behauptung, so beispielsweise die Epoch Times und die frühere DDR-Oppositionelle Vera Lengsfeld.
Das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), das viele Tageszeitungen in Deutschland mit seinen Nachrichten füttert, streute die Meldung schließlich etwas dezenter. Weiter unten im Text findet man dann, eher unauffällig und von vielen wohl nicht mehr gelesen, aber Folgendes:
"Zuvor hieß es, man habe bislang nicht die Leiche, aber einen Splitter eines Schädelknochens gefunden und daran eine DNA-Probe gemacht."
Keine Belege – Mutter und Zeugin widersprechen
Dies ist weiterhin der offizielle Stand der Dinge. Tatsächliche Belege für den vom israelischen Staatspräsidenten behaupteten Schädelfund, der eine Enthauptung beweise, existieren weiterhin nicht, im Gegenteil: Sogar sein eigener Sprecher ruderte schließlich wenig später auf Nachfrage zurück. Ein gefundener Schädelsplitter deutet zudem eher auf eine tödliche Schussverletzung hin.
Nun soll auch die Mutter des Opfers, Ricarda Louk, gegenüber dem RTL-Korrespondenten in Israel, Gordian Fritz, dieser Darstellung widersprochen haben. Darüber berichtete unter anderem die Schweizer Zeitung 20 Minuten am Abend des 31. Oktober. Die Mutter habe auf Medienberichte über eine angebliche Enthauptung ihrer Tochter "völlig geschockt" reagiert. Sie habe gesagt:
"Sie wissen nicht, was das mit uns macht."
Louks Mutter erhob damit schwere Vorwürfe gegen die Verantwortlichen für die Meldung. Gegenüber dem Reporter habe sie erklärt, ihre Tochter habe kurz nach Beginn des Angriffs noch versucht, mit dem Auto vor den Terroristen zu fliehen, sei aber von diesen sofort unter Beschuss genommen worden.
Shani Louk habe noch mit einer Textnachricht hinter ihr fahrende Freunde gewarnt: "Kommt hier nicht her, hier sind Terroristen, die schießen auf uns". Sie habe also vermutlich noch das Leben einiger Freunde gerettet. Dann sei sie, so die auf bisher bekannten Details beruhende Annahme der Familie, offenbar noch im Auto erschossen worden. Als das Video vom Truck aufgenommen wurde, sei ihre Tochter allem Anschein nach bereits tot gewesen.
Diese Darstellung untermauerte auch Roni Roman, die am Montagabend als Zeugin des Hamas-Massakers in der ARD-Talkshow Hart aber fair angehört wurde. Ihre eigene Schwester wurde von der Hamas entführt, wie es ihr geht, war zu dem Zeitpunkt unklar. Sie beschrieb das Geschehen am 7. Oktober dort so:
"Wir haben gesehen, wie sie [Anm.: Shani Louk] blutete. Wir haben gesehen, wie diese Leute um sie herum glücklich waren und gejubelt und gesungen haben, dass sie verletzt war. Und es ist einfach unfassbar, zu realisieren, dass das ihr letzter Moment auf der Welt war."
Ungeprüfte Gräuelpropaganda
Bekannt ist insgesamt also nur, dass Knochensplitter am Ort des Grauens gefunden wurden. Mindestens einer davon konnte mittels DNA-Analyse Shani Louk zugeordnet werden. Der entstamme einem bestimmten Schädelknochen. Sei dieser verletzt, könne man nicht überleben. Das Video vom 7. Oktober, das Louk auf dem Pick-up liegend zeigt, deutet auf eine schwere Schussverletzung am Kopf hin, welche auch für die Knochensplitter gesorgt haben kann.
Die Indizien sprechen somit klar dafür, dass Bild-Vizechef Ronzheimer unbewiesene Aussagen von Jitzchak Herzog ungeprüft als Tatsache darstellte, und damit wohl Fake News in die Welt setzte, mit dem Wissen, dass diese sich schnell verbreiten. Besonders verwerflich ist dies, wenn wie im Fall Shani Louk ein ohnehin grausamer Mord für solche Gräuelpropaganda missbraucht wird.
Fake News von der "richtigen Seite" wohl erlaubt
Einmal in die Welt gesetzte Lügen sind bekanntermaßen schwer wieder aus den Köpfen der Leser zu bekommen. Anzunehmen ist, dass mit derlei Meldungen Zustimmung in der deutschen Bevölkerung auf die harte Reaktion Israels auch gegen palästinensische Zivilisten erzeugt werden soll, die sogar die Vereinten Nationen (UN) zu einem Appell veranlasst hat.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die sogenannten Brutkastenlügen von 1990, konzipiert von der US-amerikanischen PR-Agentur Hill & Knowlton als Auftakt für den grausamen Irak-Krieg.
Nach Informationen der Autorin und auch des Schweizer Blattes hat sich die Bild bisher nicht zu dem Vorwurf der Verbreitung von Falschmeldungen geäußert. Das Interview und nachfolgende Artikel sind genauso weiterhin online zu lesen, wie die weiterhin unbelegten Behauptungen über angeblich Dutzende von der Hamas geköpfte Babys. Fake News sind wohl doch erlaubt – wenn sie von der regierungskonformen Seite kommen.
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