Von Felicitas Rabe
Der US-amerikanische Investigativjournalist Seymour Hersh veröffentlichte am Donnerstag eine Analyse zur Situation im Gazastreifen. Ein Veteran des israelischen nationalen Sicherheitsapparates habe ihm Insiderwissen über die jüngsten Ereignisse offenbart.
Demnach trägt der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die Verantwortung für den fortdauernden Krieg zwischen Israelis und Palästinensern. Der israelische Insider habe zunächst noch einmal festgestellt, dass Netanjahu schon immer gegen das Oslo-Friedensabkommen von 1993 gewesen sei.
Gemäß diesem Abkommen hatte die Palästinensische Autonomiebehörde "die nominelle Kontrolle über das Westjordanland und den Gazastreifen" bekommen. Bei seiner Rückkehr ins Amt des Regierungschefs habe sich Netanjahu für die Unterstützung der Hamas als Alternative zur Palästinensischen Autonomiebehörde eingesetzt. Der israelische Regierungschef habe die Hamas finanziell ausgestattet und im Gazastreifen etabliert. Mit israelischem Einverständnis seien zudem Hunderte von Millionen Dollar aus Katar an die Hamas-Führung geflossen.
Laut dem Veteran des israelischen Geheimdienstes ist Netanjahu für die Katastrophe
Wie sein Informant ihm mitgeteilt habe – so Hersh –, sei "Bibi" überzeugt, dass er mit der Vereinbarung mit Katar bezüglich der Finanzierung der Hamas mehr Kontrolle über sie als über die Palästinensische Autonomiebehörde gehabt habe. Dafür sei er das Risiko eingegangen, dass sie gelegentlich Raketen auf den Süden Israels abfeuert und Zugang zu Arbeitsplätzen in Israel hat. Diese Woche habe man die "Folgen jener der Bibi-Doktrin" erfahren müssen, nach der man angeblich einen Frankenstein erschaffen und gleichzeitig die Kontrolle über diesen behalten könne. Nach Hershs Analyse ist der Angriff der Hamas auf Israel dadurch ausgelöst worden, dass Netanjahu einer orthodoxen Siedlergruppe erlaubt hatte, das jüdische Fest Sukkot im Westjordanland zu feiern. Wortwörtlich schrieb der Journalist:
"Der Angriff der Hamas war eine direkte Folge einer Entscheidung, die Bibi gegen den Protest lokaler Militärkommandeure getroffen hatte, um einer Gruppe orthodoxer Siedler zu erlauben, Sukkot im Westjordanland zu feiern."
Die Feier sei von Netanjahu in einer Zeit genehmigt worden, in der laut einem AP-Bericht kurz zuvor, am 6. Oktober, jüdische Siedler bei Randale einen 19-jährigen Araber in einem arabischen Wohngebiet getötet haben sollen. Auf ähnliche Art und Weise seien in diesem Jahr schon fast 200 arabische Jugendliche ums Leben gekommen. Dies sei die höchste diesbezügliche jährliche Todesrate seit etwa zwei Jahrzehnten. Aufgrund der großen Spannungen zwischen den israelischen Siedlern und den Palästinensern sei die Sukkot-Feier mit zwei, drei Armeebataillonen mit rund 800 Soldaten unter besonderen militärischen Schutz gestellt worden. Infolgedessen habe man nicht mehr ausreichend Grenzsoldaten zum Schutz eines 51 Kilometer langen Grenzabschnitts zwischen Israel und dem Gazastreifen zur Verfügung gehabt.
Das größte Militärversagen in der Geschichte Israels
Daraufhin hätten die israelischen Bürger im Süden des Landes zehn bis zwölf Stunden lang ohne israelische Militärpräsenz auskommen mussten. Sie seien sich selbst überlassen gewesen. Und dass er dafür verantwortlich war, sei das jetzt auch der Grund, warum "Bibi am Ende" sei, habe der Insider erklärt. Hershs Informant habe den Angriff im Süden von Israel als "das größte militärische Versagen in der israelischen Geschichte" bezeichnet – insbesondere auch deshalb, weil im Gegensatz zum Krieg von 1973 dieses Mal auch israelische Zivilisten angegriffen worden seien. Der Insider habe dieses Versagen wie folgt konkretisiert:
"Letzten Samstag waren 22 Siedlungen im Süden stundenlang unter Kontrolle der Hamas, die von Haus zu Haus ging und Frauen und Kinder abschlachtete."
Des Weiteren habe der anonyme Informant ihm versichert, dass es eine militärische Antwort aus Israel geben werde. Dazu seien inzwischen 360.000 israelische Reservisten für ein "Cashtraining" einberufen worden – entsprechend einsatzbereit seien auch die israelische Luftwaffe und die Marinespezialeinheiten.
Potenzielle israelische Reaktion: "Leningrad-Ansatz"
In der aktuellen Lage nehme man "im Gegensatz zu früher" auch keine Rücksicht mehr auf Zivilisten. Diese habe man früher bei Bombardierungen ziviler Ziele mit dem Abwurf kleinen Minibomben auf die Dächer von Moscheen, Krankenhäusern und Wohnhäusern vorgewarnt, damit sie die Gebäude vor der eigentlichen Bombardierung noch verlassen könnten. "Bei den derzeitigen Bombenangriffen, die rund um die Uhr stattfinden, ist dies nicht der Fall", gab Hersh das Insiderwissen wieder.
Zurzeit werden dem Informanten zufolge in Israel noch potenzielle Strategien beraten. Insbesondere ziehe man eine Alternative in Erwägung, die sich als "Leningrad-Ansatz" bezeichnen ließe, so Hersh.
Diese Bezeichnung beziehe sich "auf die berühmten deutschen Bemühungen, die Stadt, die heute als Sankt Petersburg bekannt ist, während des Zweiten Weltkriegs auszuhungern".
Einige Israelis seien allerdings beunruhigt, weil führende Politiker in Deutschland, Frankreich und Großbritannien zwar ihre "volle Unterstützung" für eine "sofortige Reaktion" Israel zugesagt hätten, aber einschränkend hinzufügt haben sollen, "dass diese von Rechtsstaatlichkeit geleitet sein sollten". Bei einer Konferenz führender jüdischer Vertreter habe sich der US-Präsident dieser Auffassung angeschlossen. Auf der Konferenz, die am Mittwoch im Weißen Haus stattfand, habe er insbesondere darauf hingewiesen, was er dem israelischen Ministerpräsidenten kürzlich mitgeteilt habe:
"Es ist wirklich wichtig, dass Israel bei all der Wut und Frustration und – ich weiß nicht, wie ich es erklären soll –, dass es sich an die Regeln des Krieges hält – die Regeln des Krieges. Und es gibt Kriegsregeln", soll Biden gesagt haben.
Schließlich habe der Insider noch mitgeteilt, dass die aktuelle große Debatte sich darum drehe, "ob man die Hamas aushungern oder bis zu 100.000 Menschen in Gaza töten soll". Aber "je mehr wir alle" von der Brutalität der Hamas im Fernsehen sähen und "je mehr die Hamas als ein weiterer IS gesehen wird, desto knapper wird die Zeit". Die Hamas sei weder rational noch verhandlungsfähig, und Katar würde sich keinesfalls einmischen. Sollte eine internationale oder Drittpartei-Intervention ausbleiben, rechne man mit unzähligen Toten auf allen Seiten.
"Die Entscheidung, mit voller Wucht einzumarschieren, liegt bei Israel, und sie ist noch nicht getroffen worden", gab Hersh die Einschätzung des Informanten wieder.
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