Von Fjodor Lukjanow
Die internationale Hierarchie erlebt gerade eine fatale Erosion. Dies ist die Schlussfolgerung, zu der die Autoren des Jahresberichts des russischen Valdai International Discussion Club gekommen sind.
"Die etablierten globalen Führungsmächte werden nicht in der Lage sein, den zunehmenden 'freien Willen' anderer Staaten – ob Groß-, Mittel oder Kleinstaaten – zu unterbinden, selbst wenn sie sich dazu entschließen sollten, bedeutsame Anstrengungen zu unternehmen, um dies zu versuchen. Das Streben nach Überleben in einer äußerst vielfältigen Welt wird jeden staatlichen Protagonisten dazu zwingen, unabhängige Positionen entwickeln zu müssen."
Der Frontalangriff der Hamas auf Israel am vergangenen Wochenende war nicht zu erwarten, da ein solches stets als selbstmörderisches Vorhaben galt. Dies angesichts der enormen Diskrepanz in den Kräfteverhältnissen zwischen einer isolierten radikalen Gruppe und dem militärisch stärksten Staat in der Region, der zudem der engste Verbündete einer globalen Supermacht ist. Aber in einer extrem diversifizierten Welt sind autarke Fähigkeiten nicht gleichbedeutend mit der Summe grundlegender Fähigkeiten.
Präzises Kalkül, unkonventionelles Handeln und die ausgeklügelte Nutzung eines begrenzten Potenzials haben immer ihren Preis. Ein gewiefter Kämpfer, der sich eigentlich bereits in die Ecke gedrängt befindet und ausgezählt werden sollte, kann immer Wege finden, sich auf die Brust zu trommeln, um von den wahren Kräfteverhältnissen abzulenken.
Der derzeitige Zusammenbruch der internationalen Hierarchie ist ein Resultat der akkumulierten Ungleichgewichte in der globalen Ordnung. Dies öffnet den Weg für die Kühnsten, Entschlossensten, Härtesten – oder auch Grausamsten. Andererseits kommt der Zusammenbruch der internationalen Hierarchie als Überraschung für diejenigen, die an die etablierten Regeln und die bisher geltenden Machtverhältnisse gewöhnt sind. Dies bedeutet nicht, dass die gesamte Macht, mit ihrem Geld, ihrer Technologie und ihren Waffen, plötzlich abgewertet wird. Schließlich bestimmt die Macht alles. Doch viele müssen den Umgang mit den veränderten Machtverhältnissen neu definieren, wenn sie einem hochmotivierten Gegner gegenüberstehen.
Ein weiteres Novum ist, wie sich die neuen globalen Verhältnisse auf Allianzen auswirken. Beziehungen innerhalb von Allianzen sind die Grundlage eines stabilen Systems. Heutzutage verstärken formelle Bindungen jedoch häufig die Spannungen innerhalb der internationalen Gemeinschaft und führen zu Frustrationen. Manche haben das Gefühl, dass sie nicht ausreichend unterstützt werden, während andere glauben, dass sie andere unterstützen und dies zum eigenen Nachteil tun. Feste Bindungen innerhalb von Allianzen erschweren das Manövrieren, wenn Handlungsfreiheit und die Fähigkeit, unterschiedliche Chancen flexibel nutzen zu können, zunehmend wahrgenommen werden. Denn informelle, "hybride" Interaktionen auf allen Ebenen sind bekanntermaßen effektiv, insbesondere wenn sich politisches und militärisches Verhalten rasch ändern muss.
Aus der aktuellen Situation sollte man nicht den Schluss ziehen, dass alles auf den Kopf gestellt wird. Die materielle Grundlage, die das Potenzial zur Machtausübung bestimmt, bleibt bestehen. Aber praktisch alle Konflikte dieses Jahrhunderts – von Afghanistan über Irak und Syrien, die Ukraine und jetzt in Israel – haben eines gezeigt: Der absolute Vorteil ist relativ geworden, und ein militärischer Sieg ist nicht gleichbedeutend mit einem politischen Sieg. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Die Kosten überwiegen tendenziell den erzielten Erfolg.
Im Moment vollzieht sich der Zusammenbruch der Hierarchie eher schleichend als rasant, während schwächere Akteure stärkere Akteure zu Handlungen provozieren, die zu einem weiteren Niedergang der Stärkeren führen werden. In diesem Sinne sind die Terroranschläge vom 11. September 2001 ein Paradebeispiel. Die Position der USA in der Welt wurde nicht durch diese Angriffe selbst ins Wanken gebracht, sondern durch die langfristigen Folgen der fehlgeleiteten Reaktion Washingtons darauf.
Das Problem der Hamas in Gaza ist übrigens eine logische Folge der Terroranschläge vom 11. September. Die neokonservative Regierung von George W. Bush, entschlossen, den Nahen Osten "demokratisch" umzustrukturieren, zwang den Palästinensern "freie Wahlen" auf und weigerte sich dann, den Sieg der Hamas bei diesen Wahlen anzuerkennen.
Der ständige Vertreter Israels bei den Vereinten Nationen erklärte am vergangenen Wochenende, dass es sich bei dem, was sich derzeit in Israel und Gaza abspielt, um "Israels 11. September" handele. Diese Analogie ist gefährlich, wenn man bedenkt, wie die Ereignisse, die auf 9/11 folgten, für die USA endeten.
Dieser Meinungsbeitrag erschien zuerst in der russischen Zeitung Kommersant.
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur von Russia in Global Affairs, Vorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und Forschungsdirektor des Valdai International Discussion Club.
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