Von Seyed Alireza Mousavi
Am 14. Mai wird in der Türkei ein neuer Präsident gewählt. Laut Umfragen liefert sich der derzeitige türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan vor den Präsidentschaftswahlen ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, dem Präsidentschaftskandidaten einer Allianz der Opposition.
Der Ausgang der Präsidentenwahl scheint derzeit noch offen. Das knappe Rennen hat aber in letzter Zeit bereits dazu gedient, dass westliche Medien eine groß angelegte Kampagne gegen Erdoğan starteten. Dabei wird schon an einem Narrativ gestrickt, wonach Erdoğan im Falle einer Wahlniederlage das Ergebnis "diskreditieren" würde. "Wie wird Erdoğan sich verhalten? Niemand weiß, was er plant", kommentiert etwa die SZ. "Nicht wenige Türken fürchten, dass Erdoğan sich weigern könnte, bei einer Niederlage seinen Platz zu räumen", schreibt die FAZ.
Die jüngsten Äußerungen des türkischen Innenministers Süleyman Soylu boten dabei den Meinungsmachern im Westen reichlich Stoff für solche Spekulationen. Denn der türkische Innenminister Soylu nannte die Umstände der Wahl kürzlich bereits unverblümt einen "Putschversuch des Westens". Auch Erdoğans Äußerungen haben den Verdacht bestärkt, dass er schier alles unternehme, um seine drohende Niederlage abzuwenden: "Meine Nation wird dieses Land nicht an jemanden ausliefern, der mit der Hilfe von Kandil (der Terrorgruppe PKK) Präsident wird."
Nach der Auffassung des türkischen Innenministers Soylu glaube der Westen, dass die heutigen geopolitischen Präferenzen der Türkei nicht mit Interessen der westlichen Staaten übereinstimmen. Letztere wollten deswegen aus "geopolitischen Gründen" Kemal Kılıçdaroğlu, den Vorsitzenden der größten Oppositionspartei CHP, bei den Wahlen unterstützen, sagt Soylu.
Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Hauptsorge des Westens gegenüber Erdoğan sein Streben nach einer gänzlich autonomen Außenpolitik ist, die möglicherweise noch öfter mit westlichen Interessen kollidiert. Erdoğans Vision für den Platz seines Landes in einer neuen Weltordnung unterscheidet sich vor allem von den Bestrebungen in Washington. Erdoğan versucht bisher erfolgreich, die Außenpolitik der Türkei als regionale Macht zwischen Osten und Westen auszubalancieren, während die USA wollen, dass die regionale Macht der Türkei fest im Einklang mit westlichen Interessen ausgeübt und künftig gegen Russland und auch China ausgerichtet wird.
Sollte die Allianz der Sechs von der Opposition an die Macht kommen, könnte dieser Regierungswechsel zu einer deutlich stärker westlich ausgerichteten Türkei führen, die weniger zu außenpolitischer Autonomie neigt. Das Manifest der Oppositionskoalition, das 240 Seiten umfasst, unterstreicht die angebliche Bedeutung der Wiederherstellung des "gegenseitigen Vertrauens" mit den USA, zugleich der Verfolgung des Ziels einer "Vollmitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union" und der Wiederaufnahme der Beteiligung der Türkei an dem US-amerikanisch geführten Programm der F-35-Kampfflugzeuge.
Allerdings würde – selbst wenn Kılıçdaroğlu gewinnt – ein schneller Kurswechsel in der Außenpolitik gar nicht einfach werden. Und ob die fragile Sechserkoalition so lange durchhalten könnte, bleibt ungewiss. Eine Rückkehr Erdoğans wäre nicht ausgeschlossen, denn der erste Stresstest für eine neue Regierung folgt schon bald mit den Kommunalwahlen im kommenden Jahr.
Es bleibt zu befürchten, dass weder Erdoğan und noch Kılıçdaroğlu den Wahlausgang bei einer knappen Niederlage einfach akzeptieren werden. Vor allem die Sorge um gewaltsame Ausschreitungen nach einem möglichen zweiten Wahlgang am 28. Mai wächst. Übrigens auch wegen der Tausenden von Waffen, die in der Türkei seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 spurlos verschwunden sind.
Mehr zum Thema - Einer der vier Präsidentschaftskandidaten der Türkei zieht seine Kandidatur zurück