Von Seyed Alireza Mousavi
Die Wahlergebnisse im November 2022 beendeten mit dem Sieg von Benjamin Netanjahu eine Serie von vier Wahlgängen innerhalb von drei Jahren, bei denen keines der Lager pro und contra Netanjahu einen klaren Sieg erringen konnte. Die neue Regierung Netanjahu kam allerdings aus einer schwachen Position heraus zustande. Denn Netanjahu musste seinen nationalistischen und ultrareligiösen Koalitionspartnern mehrere Zugeständnisse machen, um überhaupt ein Regierungsbündnis bilden zu können. Erstmals kommen damit Parteien und Politiker an die Macht, die noch vor kurzer Zeit als nicht salonfähig galten. In den Reihen der neuen Regierung finden sich Fundamentalisten, deren ideologische Weltvorstellungen an Radikalität alles übertreffen, was bislang in Israel vorstellbar war.
Itamar Ben-Gvir, der wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation verurteilt wurde, erhielt den Posten als Minister für Nationale Sicherheit. Israels neuer Finanzminister ist Bezalel Smotrich, der beim Verteidigungsministerium zudem die Kontrolle über die Militärverwaltung in den besetzten Gebieten übernommen hat. Damit wird fortan Smotrich das Vorgehen der Armee im Westjordanland und die umstrittene Siedlungspolitik bestimmen. Er plant etwa, die Militärverwaltung in zwei Jahren aufzulösen, wobei dieser mögliche Schritt faktisch einer Annexion der besetzten Gebiete gleichkäme. Damit wird die Anwendung des Apartheid-Begriffs auf Israel immer relevanter.
Das Justizsystem ist der neuen Regierung ein Dorn im Auge, da das Oberste Gericht Gesetze für verfassungswidrig erklären kann. Nun will die Netanjahu-Regierung Kompetenzen des Obersten Gerichtshofes bei der Prüfung von Parlamentsgesetzen stark beschneiden. Gegen Netanjahu selbst läuft aktuell ein Prozess wegen mutmaßlicher Korruption. Und die Lage zwischen der Regierung und der Justiz war zudem vor Kurzem eskaliert, nachdem der Oberste Gerichtshof Netanjahu gezwungen hatte, den Innen- und Gesundheitsminister, Arje Deri, wegen seiner Vorstrafen zu entlassen.
Die radikale Regierung in Israel hat wieder einmal die Bruchstellen der israelischen Gesellschaft offenbart. Die israelische Staatskrise reicht indes weit über den Streit um die Justizreform und die radikalen Persönlichkeiten in der Regierung hinaus. Zehntausende Israelis versammelten sich den dritten Samstagabend in Folge am 21. Januar in mehreren israelischen Städten, um gegen die neue Regierung zu protestieren. Viele Teilnehmer scheuten sich dabei nicht vor nachdrücklichen Forderungen. Man müsse verhindern, dass Israel zu einer Diktatur werde, hieß es. Bei den jüngsten Protesten waren auch palästinensische Flaggen zu sehen. Die arabische Minderheit macht etwa 20 Prozent der rund neun Millionen Einwohner Israels aus. In vielen Städten ist die Bevölkerung gemischt, die arabische Bevölkerung ist zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt.
Zugleich eskalieren die Unruhen im Westjordanland. Im vergangenen Jahr kam es dort zu einer der schlimmsten Gewalttaten seit über einem Jahrzehnt, als die Armee nach einer Reihe tödlicher Angriffe von Palästinensern in Israel fast täglich Razzien in Städten wie Nablus und Dschenin durchführte. Mehr als 160 Palästinenser wurden getötet, als die israelischen Streitkräfte ihre Operationen verstärkten. Dabei war zu beobachten, wie junge Kämpfer, die von der Fatah-Bewegung enttäuscht waren, neue Gruppen wie die "Löwengrube" in Nablus oder die Dschenin-Brigaden gründeten.
Die Rückkehr Netanjahus in einem Bündnis mit einer Reihe religiöser und rechtsextremer Parteien, die den Siedlungsausbau und die Entrechtung der Palästinenser befürworten, hat zu Befürchtungen über eine erneute Konfrontation mit den Palästinensern und insbesondere mit der Hamas geführt. Da der Fatah-Führer und Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, inzwischen weit über 80 Jahre alt ist, hat die Hamas bereits ein Auge auf die Zukunft im Westjordanland geworfen. Die zukünftige Eskalation um die Palästina-Frage wird daher wohl nicht mehr zwischen Gaza und Israel ausgetragen, sondern im Westjordanland. Genauer gesagt, innerhalb der Orte mit israelisch-palästinisch gemischter Bevölkerung. Und damit würde eine weitere Eskalationsstufe erreicht.
US-Außenminister Antony Blinken wird nächste Woche Israel und das Westjordanland besuchen, um die neuen Entwicklungen zu besprechen. Blinken wird der zweite hochrangige Beamte der Biden-Regierung sein, der diesen Monat Israel besucht, weniger als zwei Wochen nach dem Nationalen Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Jake Sullivan. Die USA befürchten erneute bürgerkriegsähnliche Zustände in Israel, wie schon bei dem Konflikt in Gaza im Jahr 2021. Denn von diesen Unruhen könnte nicht zuletzt der Hauptrivale der USA in der Region, Iran, profitieren.
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