Eine Analyse von Dr. Karin Kneissl
"Bilad ash-Sham" ist ein traditioneller arabischer Begriff für jene nahöstliche Region, welche die Staaten Syrien, Libanon, Jordanien aber auch Israel und die palästinensischen Gebiete und einige Regionen in der südlichen Türkei umfasst. Sham ist aber der alte Name für Damaskus, die erste Hauptstadt des arabischen Reiches, das im siebten Jahrhundert unter der Dynastie der Umayyaden entstand. "Bilad ash-Sham" bedeutet übersetzt die Länder zur linken Seite. Denn von Mekka aus betrachtet, liegt Damaskus links und rechts davon ist der Jemen, von wo die ältesten und noblen arabischen Familien stammen.
Der Traum von Großsyrien
Dieser Begriff ist im Alltag so geläufig, wie in Mitteleuropa von der Donauregion die Rede ist. Er ist aber auch mit dem politischen Konzept von Großsyrien eng verbunden, demzufolge die zuvor genannten Nationalstaaten, ganz besonders aber der Libanon, keinen Anspruch auf eine nationale oder historische Eigenständigkeit haben. Als das Osmanische Reich mit dem Ende des Ersten Weltkriegs zerbrach und neue Nationalstaaten an dessen Stelle traten, tobte auch ein ideologischer Kampf um diese Begriffe.
Denn ein Spätling unter den Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts war der Panarabismus. Die Idee einer gemeinsamen arabischen Umma, was mit Gemeinschaft und nicht mit Nation oder Staat zu übersetzen ist, begeisterte die Generation um 1900 in den politischen Salons von Casablanca über Alexandria bis Beirut oder Damaskus. Die arabische Kultur definiert sich über die gemeinsame Sprache, nicht aber eine gemeinsame Religion. Interessanterweise waren es auch oft christliche Intellektuelle, ob die mehrheitlichen Orthodoxen oder Maroniten etc., welche politische Parteien gründeten und mit der Erneuerung der arabischen Hochsprache das moderne Verlagswesen schufen.
Die Klöster spielten ähnlich wie in Mitteleuropa oder Russland eine wichtige Rolle in der Volksbildung. Das Libanongebirge, das von der Küste binnen weniger Kilometer auf bis zu 3000 Meter ansteigt, war zudem aufgrund seiner verborgenen Schluchten und Höhlen Zufluchtsort für Verfolgte. Und das gilt bis in die Gegenwart. Hier fanden sich immer wieder kreative Köpfe, die nicht nur Bücher schrieben, sondern auch über die libanesische Diaspora einen großen Radius entfalteten. Freigeister wirkten im Libanon zu allen Zeiten. Der besonders Status des Libanons innerhalb des Osmanischen Reiches, der sich im Laufe mehrerer europäischer Interventionen im 19. Jahrhundert entwickelte, ermöglichte zu einem frühen Zeitpunkt bürgerliche Freiheiten, die ihresgleichen in Europa und in der Region suchten.
Und auch in dieser Zeit der vielen Freiheitseinschränkungen in Europa werden im Libanon Redefreiheit und Pluralismus gelebt. Die Freiheit ist während der letzten Jahrzehnte oft genug in Anarchie abgeglitten. Gewissermaßen existiert der Staat nicht, doch das Land jedenfalls – und das seit Jahrtausenden. Ein Blick auf die Bibel und die vielen Referenzen zum Libanon genügt. Ohne Zedernholz hätten die Pharaonen ihre Sarkophage und Totenschiffe nicht bauen können. Salomon hätte seinen ersten Tempel für Jahwe nicht errichtet. Und der Libanon ging damit in die ewigen Annalen ein. Doch dabei sollte es nicht bleiben.
Freiheitskämpfer aller Art in der arabischen Welt, ob Kommunisten, Palästinenser oder Islamisten, errichteten auf dem libanesischen Staatsgebiet immer wieder ihre Hauptquartiere und missbrauchten das Gastrecht ebenso, wie sie Gesetze verletzten. Zudem mischten sich die beiden Nachbarn Israel und Syrien regelmäßig ein. Es fanden sich auch immer ausreichend libanesische Politiker, die sich für die Zwecke anderer Staaten instrumentalisieren ließen. Beide Staaten intervenierten militärisch immer wieder im Libanon, sodass dieses kleine Land von knapp 10.450 Quadratkilometern oft genug für tot erklärt wurde, denn die "Libanisierung", also der Zerfall in ethnische Kantone und die Entstehung von Milizen anstelle der nationalen Armee, beherrschte den Alltag.
Die Macht der Geschichte und der Geografie
Neben den genannten ideologischen Gründen spielte aber auch stets die Geografie hinein. Für Damaskus ging es um den Zugang zum Hafen von Beirut. Die Gründung des sogenannten "Grand Liban" als französisches Mandat im Jahre 1920 neben jenem Syriens wurde von syrischen Nationalisten sämtlicher Strömungen, so auch der regierenden Baath Partei, als "künstlich" bezeichnet. Den Verlust des Beiruter Hafens verschmerzte man in Damaskus nie, denn die Transportwege nach Latakia oder Tartus sind komplizierter. Die Strecke Beirut Damaskus ist eine kurze, doch die Welten könnten kaum unterschiedlicher sein. Das kosmopolitische Flair und eine gewisse Leichtigkeit sind auch in der gegenwärtigen Misere des Landes der Dauerkrise spürbar. Die Atmosphäre in Damaskus war stets weniger verspielt. Vielmehr blickte man von dort mal mit Verachtung, dann wieder mit ein wenig Eifersucht auf den Nachbarn. Erst im Jahre 2004 nach dem Abzug der syrischen Truppen wurden erstmals diplomatische Beziehungen zwischen den beiden Nachbarstaaten und damit auch Botschaften errichtet. Zuvor hieß es offiziell in Syrien: "Wenn die Libanesen uns etwas mitteilen wollen, sollen sie nach Damaskus rüberkommen".
Kamen die Syrer seit den 1970er-Jahren immer wieder als militärische Besatzer, so strömen spätestens seit Kriegsbeginn in den Jahren 2011/22 Millionen von Syrern als Flüchtlinge in den Libanon. Sie verdingen sich teils als Tagelöhner und teils leben sie von der UNO.
Die Libanesen fürchten nicht zum ersten Mal in der Geschichte demographische Verschiebungen angesichts der hohen Geburtenzahl unter den Syrern. Die Belastung des ohnehin kaputten Strom- und Wassersystems durch die Flüchtlinge ist ein Dauerthema, das für Unmut sorgt. Und für das UNO-Flüchtlingswerk UNHCR sowie den gewaltigen NGO-Markt im Libanon ist die Priorität, ihre Geschäftsmodelle im Libanon fortzuführen. Die Versorgung der syrischen Flüchtlinge in den riesigen Zeltsiedlungen in der Bekaa Ebene wäre ebenso einige Kilometer weiter östlich auf syrischem Staatsgebiet möglich. Doch UNO-Mitarbeiter ebenso wie die NGO-Kohorten arbeiten lieber im Libanon als in Syrien. Und viele syrische Flüchtlinge denken keineswegs an eine Repatriierung, wie die libanesischen Behörden es versuchen. Ein Grund ist oft genug, dass im Libanon mehr Freiheit herrscht und man sich besser amüsiert. Und das war immer schon so.
Während der Jahrhunderte osmanischer Kontrolle bestand eine gewisse Kontinuität, die sich seit der antiken Epoche, ob unter ägyptischer oder römischer Herrschaft, herausgebildet hatte: die mächtigen Stadtstaaten wie Aleppo, Byblos, Akko etc. auf der einen Seite und das weite, offene Land auf der anderen. Provinzgrenzen aus der byzantinischen Zeit bestimmen bis in unsere Epoche die Zuständigkeiten der orthodoxen Patriarchate. Die Entstehung der Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg schuf neue Realitäten und Konflikte. In gewisser Weise wirken ähnlich wie in Europa die Verträge jener Epoche nach und der Erste Weltkrieg ist noch nicht zu Ende. Gelang es Syrien streckenweise ein syrisches Nationalgefühl zu schaffen, so blieb der Libanon immer wieder in seinen konfessionellen Partikularinteressen stecken.
Der Abstieg eines wohlhabenden Landes
Nach einer kurzen Phase als Drehscheibe für den Luftverkehr und das gesamte arabische Bankenwesen – in den 1950er und 1960er-Jahren wurde der Libanon als die Schweiz des Nahen Ostens und Beirut als das Paris der Region bezeichnet – folgten grausame Turbulenzen, in denen das Land zum Aufmarschgebiet von Narren und Terroristen aus der gesamten Welt wurde. Syrien hatte hier oft genug seine Finger im Spiel, wie auch Israel und die USA. Doch letztlich waren es die libanesischen Clans und ihre politischen Parteien, die oft im Familienbesitz stehen oder zumindest von bestimmten Ethnien dominiert werden, welche sich für die Interessen anderer hergaben und kaum an ihr Land, vielmehr aber an ihre Geldbörse dachten.
Anfang der 2000er-Jahre schien es eine Weile, als könnte der Libanon von den Folgen der Anschläge vom 11. September profitieren. Denn als es für Menschen im arabischen Raum komplizierter wurde, ihre Kinder zum Studium in die USA zu schicken, gewannen die vielen englischsprachigen Universitäten des Libanons an Zustrom. Das Geld aus dem arabischen Golf sorgte für neuen Aufschwung, der sich zuvor schon im Wiederaufbau von Beirut und Zweitwohnsitzen niederschlug. Doch mit der saudisch-iranischen Konfrontation, die sich im Libanon vor allem in den Machtkämpfen der schiitischen Partei und Miliz Hisbollah äußerte, verlor das Land an Popularität in den Golfstaaten.
Schon lange haben Dubai und Doha die einstigen Beiruter Geschäfte übernommen. Der einst so wichtige Flughafen von Beirut ist nur mehr ein Schatten seiner selbst. Seit Oktober 1990 ist der Stellvertreterkrieg, der offiziell im Jahre 1975 begann, zu Ende. Es folgten weitere Gemetzel und Kriege, doch niemand hatte mehr ein Interesse daran, das Land zum regionalen Schlachtfeld zu machen, wie dies viele Jahre im Namen des palästinensischen Widerstands oder der arabischen Einheit der Fall war.
Weitermachen
Das Land und seine Menschen stolpern gewissermaßen durch die vielen Krisen, die eine Hyperinflation von weit über 200 Prozent lostraten und ein Elend über das Land brachten, welches zuvor im Libanon nicht in dem Umfang existierte. Was mich an den Menschen unter anderem sehr beeindruckt, ist die Tatsache, dass sie sich ihre Gastfreundschaft und ihr Lächeln erhalten. Allen bitteren Erfahrungen zum Trotz sind die Menschen in ihrer Gesamtheit nicht verhärtet oder gar zynisch geworden. Der Umgangston ist freundlich, auch wenn die Folgen der Pandemie und vor allem der Überlebenskampf vieler den Alltag überschatten.
"Leben und leben lassen" – das ist ein Lebensmotto, welches im durch und durch pluralistischen Libanon seit Jahrhunderten allen brutalen Zäsuren zum Trotz gelebt wird. So machen die Menschen weiter, auch wenn jeden Monat um die 15.000 Libanesen offiziell emigrieren. Die Emigration ist aber Teil der libanesischen Geschichte. Die Millionen Auslandslibanesen schicken Geld an ihre Familien. Diese "Remittances"(Geldsendungen) sind seit jeher ein wichtiger Motor der Wirtschaft. Und das Leben geht weiter zwischen den alten Stadtmauern der Hafenstädte, die seit 7000 Jahren existieren, und den Dörfern im Gebirge. Ähnlich verhält es sich mit Syrien, denn auch hier muss sich eine Bevölkerung vom Albtraum der Kriege, der Massaker und des Hungers erholen.
Sie teilen Jahrtausende an historischer Schicksalsgemeinschaft und sie doch so unterschiedlich – der Libanon und Syrien und die Menschen der "Bilad ash Sham".
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