George Jabbour ist Historiker, Diplomat und langjähriger Berater des ehemaligen syrischen Präsidenten Hafez al-Assad. Er ist Vorsitzender der Syrischen Gesellschaft für die Vereinten Nationen und regelmäßiger politischer Kommentator für Funk und Fernsehen.
RT DE: In Syrien wird viel über eine mögliche Versöhnung zwischen der Türkei und Syrien gesprochen. Wird es eine Versöhnung geben und wenn ja, wie kann sie aussehen?
George Jabbour: Am Beginn sollte ein Vier-Mächte-Treffen im Astana-Format stattfinden. Bisher besteht das Astana-Format aus drei Staaten, Russland, Iran und der Türkei. Sie haben Syrien in zwei Parteien geteilt, in die Regierung und in die Opposition. Ich habe dieses Format von Anfang an für ungerecht gehalten, weil drei Mächte dort miteinander diskutieren, während Syrien nur angehört wird. Zudem wird die Opposition auf die gleiche diplomatische Stufe gestellt wie die Regierung.
RT DE: Warum sollte sich das jetzt ändern?
George Jabbour: Erstens haben wir die Erklärung von Çavuşoğlu, zweitens die Erklärung von Erdoğan, drittens war Mekdad gerade in Moskau und viertens könnte es sein, dass Präsident Assad zur nächsten Konferenz der Shanghaier Kooperation eingeladen wird und dort mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan zusammentreffen könnte. Für mich ist das ein Zeichen dafür, dass Syrien als souveräner Staat zurückkehrt. Die Türkei will Versöhnung, Russland, Iran und auch Syrien wollen Versöhnung. Die Einigung wird also kommen, zu welchen Bedingungen, ist schwer zu sagen. Klar ist, dass die Mehrheit derjenigen, die heute in Syrien leben, Präsident Assad unterstützen und eine starke Regierung wollen, die sie vertritt. Natürlich gibt es Widersprüche und es gibt Differenzen über die Art der Politik, das ist normal.
RT DE: Warum hat die Türkei gerade jetzt Interesse an der Versöhnung geäußert?
George Jabbour: Die Türkei will gegen die kurdische Separatistenbewegung vorgehen, die bei uns in Syrien auch präsent ist. Sowohl die Türkei als auch Syrien bestehen auf die Einheit des Staates, auf die Sicherheit der Grenzen, an diesem Punkt kommen beide sich entgegen.
RT DE: Die Türkei will also, dass Syrien mit ihr zusammen gegen die kurdische Selbstverwaltung im Nordosten vorgeht?
George Jabbour: Wir in Syrien haben – anders als die Türkei – mit den Kurden seit Langem eine andere, ich möchte sogar sagen harmonische Beziehung. Die meisten Kurden verhalten sich gegenüber dem syrischen Staat loyal. In der letzten Zeit gab es einige Probleme, die ich auf den Einfluss von amerikanischen Agenten und möglicherweise auch von Israel zurückführe, aber ich weiß das nicht. Was die Versöhnung betrifft, geht Syrien davon aus, dass das derzeitige politische System vielleicht mit kleinen Veränderungen Bestand haben wird, die Türkei hat eine andere Vorstellung. Präsident Assad hat öfter darüber gesprochen, dass Präsident Erdoğan ihm gesagt habe, er erwarte, dass "einige Leute" (gemeint ist die Muslimbruderschaft) in die Regierung aufgenommen werden sollten. Wir werden sehen, ob Erdoğan in einem Jahr noch Präsident der Türkei sein wird. Sollte die Opposition bei den Wahlen im Juni 2023 gewinnen, könnte sie weniger Forderungen an Syrien stellen.
RT DE: Sie gehen davon aus, dass ein Versöhnungsprozess mit der Türkei ein Jahr dauern wird?
George Jabbour: Er wird mindestens 18 bis 20 Monate dauern.
RT DE: Sie haben die Rolle des Astana-Formats erwähnt. Was ist mit den Vereinten Nationen, welche Rolle können sie bei dem Versöhnungsprozess spielen?
George Jabbour: Aktuell haben die Vereinten Nationen große Probleme wegen der Lage in der Ukraine. Sie bewegen sich zu langsam. Der Generalsekretär hatte vor dem 24. Februar zwischen Russland und den USA, zwischen Putin und Biden vermitteln müssen, um den Krieg zu verhindern. Im September tagt die UN-Generalversammlung. Die Ukraine könnte den Ausschluss Russlands aus den Vereinten Nationen fordern, es wird Unruhe geben. Was den Versöhnungsprozess zwischen der Türkei und Syrien betrifft, sind die Spieler, die am Tisch sitzen klar: die drei Astana Mächte (Russland, Iran, Türkei) und Syrien. Dann gibt es die USA, Israel und die Vereinten Nationen.
RT DE: Und wie wird es ausgehen?
George Jabbour: In jedem Fall werden die Vereinten Nationen das umsetzen, was entschieden wird. Besonders, wenn es eine Vereinbarung gibt, an der die USA beteiligt sind. Die Resolution 2254 wird keine Rolle mehr spielen, wohl aber das Verfassungskomitee. Es wird seine Arbeit wiederaufnehmen, es wird mehr diskutieren und sich über einige wesentliche Dinge einigen: den Grenzverlauf, die staatlichen Symbole, die Fahne, Parteien. Und wenn die politische Versöhnung vollzogen ist, werden die Ergebnisse der Diskussion in eine Verfassung aufgenommen werden. Nur leider ist es so, dass Verfassungen nie stark genug waren, um sich gegen Machtpolitik durchzusetzen. Nicht in Syrien und in keinem Staat der Welt.
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