Eine Analyse von Seyed Alireza Mousavi
Knapp zwei Jahre vor den nächsten Wahlen überschlagen sich die Ereignisse in der Türkei. Die türkische Lira verfällt rasant, während die Inflation steigt. Seit 2015 hat die türkische Währung gegenüber dem Dollar um 70 Prozent an Wert verloren. Die türkische Lira wurde Berichten zufolge seit Jahresbeginn um mehr als 40 Prozent abgewertet.
Am Wochenende demonstrierten mehrere Tausend Menschen in der südtürkischen Stadt Mersin angesichts der zunehmenden Inflationsrate und des Lira-Absturzes für den Rücktritt von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Viele türkische Firmen hatten Kredite in Dollar oder Euro aufgenommen. Laut Experten wird die zu bedienende Schuldenlast umso drückender, je mehr die türkische Lira an Wert verliert. Finanzminister Lütfi Elvan wurde inzwischen gegen seinen Stellvertreter Nureddin Nebati ausgetauscht.
Während der Währungsverfall die hohen Importpreise in der Türkei zusätzlich antreibt, präsentierten Erdoğan und sein Koalitionspartner (MHP) Devlet Bahçeli vor Kurzem die provokative Karte des "Großen Turan". Damit ist der türkischsprachige Raum gemeint, der sich vom Balkan bis nach Russland und China erstreckt. Die von Erdoğan begeistert empfangene Karte des "türkischen Großraumes" umfasst nicht nur die Türkei, sondern auch große Teile Südrusslands und Ostsibiriens, Teile Griechenlands sowie Gebiete des Balkans, Zentralasiens, der chinesischen Provinz Xinjiang, Irans sowie der Mongolei.
Die Präsentation der Karte erfolgte nur wenige Tage, nachdem der achte Gipfel des Kooperationsrates der türkischsprachigen Staaten stattgefunden hatte. An dem Gipfel in Istanbul nahmen die Präsidenten Aserbaidschans, Kasachstans, Kirgisistans, Usbekistans sowie der Türkei teil. Das turkmenische Staatsoberhaupt Gurbanguly Berdimuhamedow und der Ministerpräsident Ungarns Viktor Orbán waren als Beobachter bei dem Treffen vertreten.
In der Türkei nehmen derzeit die Ressentiments gegen die vier Millionen syrischen Flüchtlinge im Land zu. Die Türkei hat so viele Flüchtlinge aufgenommen wie kein anderes Land der Welt in den vergangenen Jahren. 80 Prozent der Türken lehnen ihre Anwesenheit ab. Der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei ist schon lange brüchig. Während die EU vom Flüchtlingsdeal mit der Türkei profitierte, muss Ankara etwa vier Millionen Migranten beherbergen, erhielt von der europäischen Seite aber zugleich immer noch nicht die versprochene Visafreiheit für den Schengenraum oder eine Vertiefung der Zollunion.
Das türkische Parlament hatte trotz der Flüchtlingskrise den Militäreinsatz in Syrien und im Irak unlängst verlängert. Der CHP-Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu stimmte gegen den Antrag. Mit dem neuen Antrag soll der türkischen Regierung zudem die Befugnis erteilt worden sein, die Verlegung ausländischer Truppen auf türkisches Territorium zu legitimieren.
Erdoğan will im Grunde mit nationalistischen Parolen und Träumen vom neuen Osmanischen Reich von den wirtschaftlichen Problemen seines Landes und der Spaltung der Gesellschaft nach der Intervention in Syrien ablenken.
In aktuellen Umfragen verlieren Erdoğan und seine Partei AKP an Zustimmung, während die Opposition aufholt. Im Oktober trafen sich sechs Oppositionsparteien, um einen Grundkonsens im Vorfeld der nächsten Wahlen zu erzielen. Die Opposition in der Türkei ist anscheinend entschlossen, die Ära Erdoğan zu beenden. Dazu arbeiten sechs Oppositionsparteien, CHP, Iyi, DEVA, DP, Saadet und Gelecek Partisi, nun enger zusammen.
Die Lage zwischen der Türkei und dem Westen eskalierte zudem, nachdem zehn westliche Botschafter in Ankara die Freilassung des sogenannten "türkischen Soros" Osman Kavala gefordert hatten. Erdoğan hatte seinerzeit mit der Ausweisung der westlichen Botschafter gedroht. Ein türkisches Gericht entschied vor Kurzem, dass Kavala weiterhin in Haft bleibt. Die Türkei wirft ihm vor, am Putschversuch 2016 mitgewirkt zu haben. Nun will der Europarat offenbar ein Ausschlussverfahren gegen Ankara einleiten, da die Türkei dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht gefolgt war, Kavala freizulassen. Die Türkei wäre dann das erste Land in der mehr als 70-jährigen Geschichte des Europarats, das aus dem Rat ausgeschlossen wird.
In der Außenpolitik laviert die türkische Regierung schon lange zwischen Westen und Osten. Der schrittweise Abzug des Westens aus der Region ist ein geopolitischer Wendepunkt, der die Türkei in naher Zukunft allerdings dazu zwingen wird, ihre Schaukelpolitik zu beenden und sich klar zu positionieren, unabhängig davon, ob Erdoğan im Amt bleibt oder nicht.
Inzwischen machen die Berichte Runde, dass Erdoğan zur nächsten Präsidentschaftswahl gar nicht mehr antritt, da er eine Niederlage abwenden möchte.
Zudem wurde in letzter Zeit viel über Erdoğans Gesundheit spekuliert. In einem Videoausschnitt, das in sozialen Medien zirkuliert, scheint der Präsident Hilfe beim Heraufsteigen einer Treppe zu benötigen. Foreign Policy berichtete Anfang Oktober, es gebe immer mehr Anzeichen dafür, dass der türkische Präsident kränkelt.
Wie Reuters am Samstag berichtete, war unter einem Polizeifahrzeug einer Sondereinheit in der türkischen Stadt Mardin eine Bombe gefunden worden. Das Fahrzeug sollte als Unterstützung bei einer Kundgebung Erdoğans in der Stadt Siirt im Südosten der Türkei eingesetzt werden.
Dass im Zuge der Krise im Land mutmaßlich ein Anschlag auf den türkischen Präsidenten geplant worden war, macht allerdings deutlich, dass die Türkei unter Erdoğan vor schwierigen Zeiten steht.
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