Eine Analyse von Seyed Alireza Mousavi
Afghanistan wurde seit der Machtübernahme der Taliban von einer Reihe von Anschlägen heimgesucht. In den vergangenen Wochen hatte die Gruppierung "Islamischer Staat Khorasan", ein regionaler Ableger der IS-Dschihadistenmiliz, die Verantwortung für Anschläge gegen Zivilisten übernommen. Derartige Anschläge sind im Grunde gezielt gegen Minderheiten (wie die schiitischen Hazara) und Taliban-Funktionäre gerichtet: Vor Kurzem kam es zu tödlichen Explosionen in den schiitischen Moscheen in Kandahar und Kundus. Auch ein ranghoher Kommandeur der Taliban wurde bei einem Terrorangriff am Dienstag auf eine Klinik in Kabul durch IS-Terroristen getötet.
Die Taliban, die bislang vom Ausland nicht als neue Regierende anerkannt werden, sehen sich bei ihrem Übergang von einer militanten Gruppe hin zu einer Regierung zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Die Lage in Afghanistan verschärft sich insbesondere dadurch, dass der Westen nicht bereit ist, die gesperrten Konten des afghanischen Staates freizugeben.
Nach Angaben der afghanischen Zentralbank sind allein in Deutschland 431 Millionen Dollar an Zentralbankreserven auf einem Konto der Commerzbank eingefroren, und weitere 94 Millionen bei der Bundesbank. In Basel, bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, liegen etwa 660 Millionen.
Eine Anerkennung der Taliban kommt für den Westen bislang nicht infrage. Er hat sich zudem nicht bereit erklärt, auf Augenhöhe mit den Taliban zu verhandeln. Auf der Konferenz in Moskau, wo Afghanistans Nachbarn und die Taliban zusammenkamen, nahm er nicht teil.
Der Nationale Sicherheitsberater Pakistans, Moeed Yusuf, warnte in der FAZ vor einem Kollaps in Afghanistan. Pakistan zeigt sich über die Abwartehaltung der meisten westlichen Staaten besorgt. Die USA haben das Milliardenvermögen der afghanischen Zentralbank eingefroren, während sich die Versorgungssituation im Land immer weiter verschärft: "Wenn Sie Aschraf Ghani oder Hamid Karzai gesagt hätten, sie müssten zwei Monate ohne finanzielle Hilfe von außen durchhalten, was glauben Sie, wäre mit ihren Regierungen passiert? Sie wären kollabiert", sagte Yusuf.
Die Weltgemeinschaft erwartet von den Taliban, eine inklusive Regierung zu bilden. Doch die Meinungen darüber, was inklusiv bedeutet, divergieren stark. Die Forderung nach der Vertretung von Frauen im Kabinett hielt Yusuf nicht für "zielführend". Dass man einem "westlichen Ideal" nahekommen könnte, glaubt Yusuf nicht, aber das habe man auch in den vergangenen 20 Jahren nicht erreicht.
Wenn das vom Westen ausgebildete afghanische Militär nach zwanzig Jahren Besatzung kein Interesse hatte, die Taliban aufzuhalten, und in kürzester Zeit vor den paschtunischen Milizen kapituliert, dann könnten dafür nicht allein strategische Fehlentscheidungen verantwortlich gemacht werden. Denn einem beträchtlichen Teil der Afghanen liegt eine Taliban-Gesellschaft näher als eine den Afghanen aufgezwungene westliche Agenda.
Der Westen kann sich nicht länger der Wahnvorstellung hingeben, andere Länder warteten nur darauf, nach seinen Werten und seiner Agenda zu leben. Insbesondere seitdem der Westen selbst in eine neue Demokratiekrise verstrickt ist, wonach Partikularinteressen und fast unendlich neu definierbare Minderheitenrechte über kollektiven Interessen und Werten stehen. Einst kämpfte die westliche Demokratie für die Emanzipation von "kollektiven Zwängen" wie der Familie im Zuge der 68er-Bewegung und plädierte ihrerseits für die "Rechte der Frauen". Nun kämpft sie für die Emanzipation von Geschlechtsidentitäten. Dieses Demokratiemodell ist nicht nur kein Vorbild für Afghanistan oder die Länder in der Region, sondern es wird sich darüber hinaus dynamisch selbstzerstörerisch auf den Westen auswirken.
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