Erdoğan droht mit neuer Militärkampagne in Syrien: Wie wird Russland reagieren?

Die Türkei droht mit einer Militäroffensive gegen die YPG-Milizen in der Stadt Tall Rifaat, nachdem die YPG mutmaßlich zwei türkische Spezialpolizisten getötet hatte. Die Tall Rifaat-Karte zu ziehen, scheint für den türkischen Regierungschef nun ein Mittel zu sein, um den Status quo in Idlib zu bewahren.

Eine Analyse von Seyed Alireza Mousavi

Die Türkei droht mit einer neuen Militäroffensive in Nordsyrien gegen die kurdischen YPG-Milizen in Tall Rifaat, nachdem die YPG mutmaßlich zwei türkische Spezialpolizisten in Nordsyrien getötet hatte. Die syrisch-kurdische YPG-Miliz, eine Schwesterorganisation der in der Türkei als terroristische Vereinigung eingestuften PKK, habe Berichten zufolge unlängst ein bewaffnetes Fahrzeug in Nordsyrien mit einer Lenkwaffe beschossen.

Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurde der Angriff auf den türkischen Konvoi von den Afrin-Befreiungskräften durchgeführt. Das türkische Militär beschoss im Gegenzug Dörfer, in denen kurdische Truppen stationiert waren, mit Artilleriegranaten und Raketen.

Am Freitag drohte der türkische Präsident Erdoğan ein neues Kampf-Format der Anti-Terror-Operation in Syrien zu starten. In seiner Rede griff Erdoğan auch die US-Amerikaner an. "Die Terroristen von PKK, YPG und PYD" seien überall in Syrien unterwegs, nicht nur im nördlichen Teil, sagte er. Deren prominentester Unterstützer sei die von den USA geführte Anti-ISIS-Koalition, fügte Erdoğan hinzu.

Das Statement des türkischen Präsidenten darf als eine Reaktion auf US-Präsident Joe Biden interpretiert werden. Der hatte letzte Woche der Türkei vorgeworfen, mit ihrer Politik in Syrien "die nationale Sicherheit und die Interessen der USA" sowie die Bekämpfung der IS-Gruppen in Irak und Syrien zu gefährden. 

Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu hatte zuvor die USA und Russland für den jüngsten Angriff auf ein türkisches Polizeifahrzeug mitverantwortlich gemacht. Die beiden Länder hätten ihre Versprechen nicht eingelöst, so Çavuşoğlu. Ankara macht dabei Moskau den Vorwurf, die Russen hätten es angeblich nicht geschafft, die YPG in der Region in Schach zu halten. 

Die USA betrachten die YPG wiederum als einen Partner im Kampf gegen den IS und unterstützen die Miliz in dem vom Krieg zerrütteten Syrien. Die Türkei vertritt ihrerseits jedoch den Standpunkt, die YPG sei der syrische Ableger der kurdischen PKK und daher eine terroristische Gruppe. Die türkische Tageszeitung Daily Sabah kommentierte dementsprechend, die USA hätten im Kampf gegen den IS zwar mit der YPG zusammengearbeitet. Aber Frieden werde niemals erreicht, indem "terroristische Gruppen gegeneinander ausgespielt werden."

Vor etwa zwei Jahren startete Erdoğan eine Offensive gegen kurdisch gehaltene Städte im Nordosten Syriens. US-Präsident Donald Trump hatte seinerzeit dafür grünes Licht gegeben. Die militärische Aktion erfolgt im Rahmen der sogenannten "Operation Friedensquelle" – unter dem Vorwand eine Sicherheitszone zu schaffen, um der Flut von syrischen Flüchtlingen in die Türkei entgegenzutreten. 

Ankara versucht nun eine Offensive gegen Tall Rifaat zu starten, um die eigene schwächelnde Position gegenüber den Kurden in Syrien zu verbessern. Tall Rifaat liegt in einem Korridor zwischen mehreren Frontlinien. Die 21 Kilometer südlich der türkischen Grenzprovinz Kilis, 22 Kilometer östlich von Afrin und 27 Kilometer nördlich von Aleppo gelegene Stadt steht seit der Eroberung durch kurdische Truppen im Februar 2016 im Fadenkreuz der Türkei.

Zuletzt wurde berichtet, dass Erdoğan während seines jüngsten Treffens mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Sotschi die Lage in Tall Rifaat besprochen habe. In den vergangenen Tagen machten Spekulationen die Runde, wonach Moskau einer begrenzten türkische Operation in Tall Rifaat zustimmen könnte, wenn die Türkei im Gegenzug ihre militärischen Außenposten entlang der strategisch bedeutsamen Autobahn M4 in Idlib abziehen und die Kontrolle über diese Autobahn den syrischen Regierungstruppen überlassen würde. Das berichtete die Webseite Al Monitor.

Russland hat allerdings bislang keinerlei Bereitschaft gezeigt, eine Operation gegen Tall Rifaat zu tolerieren – und wird dies im Fall einer türkischen Offensive aller Voraussicht nach ebensowenig tun. Viele Experte vermuten daher, dass in Wahrheit die wachsenden politischen und wirtschaftlichen Nöte in der Türkei Erdoğan in ein weiteres militärisches Abenteuer drängen. Denn damit ließe sich die Öffentlichkeit von den Problemen zu Hause abzulenken, und man könnte in der Bevölkerung gleichzeitig nationalistische Gefühle schüren. Und den Russen dürfte bewusst sein, dass eine neue Militäroperation möglicherweise die einzige politische Karte ist, die Erdoğan ausspielen könnte, um seine immer geringer werdende Unterstützung zu Hause wettzumachen.

Viele türkische Analysten glauben, Erdoğan wäre gar nicht in der Lage, eine groß angelegte Militäroffensive anzuordnen. Denn damit würde er eine erhebliche Eskalation riskieren, ohne von Russland die nötigen Garantien für die Nutzung des syrischen Luftraums zu erhalten. Angesichts der Bedeutung, die Damaskus und seine Verbündeten der Stadt Tall Rifaat beimessen, hat Erdoğan zudem kaum eine Chance, eine neue Aggression gegen Syrien zu starten. Jetzt die Tall Rifaat-Karte zu ziehen, scheint für den türkischen Regierungschef daher nur ein Mittel zu sein, um den Status quo in Idlib aufrechtzuerhalten. Denn Erdoğan hat Idlib faktisch zu einem von der Türkei abhängigen Protektorat gemacht.

Die Situation im Norden Aleppos ist sehr angespannt. Einst herrschten die Demokratischen Selbstverteidigungskräfte (DKS) der kurdischen YPG über Afrin im Nordwesten Syriens. Ein Teil dieser Einheiten befand sich aber auch in der Region um Tall Rifaat. Seitdem Afrin von der Türkei erobert wurde, fungiert die Stadt Tall Rifaat als eine "Exklave". Denn mit Ausnahme des südlichen Teils ist die Stadt von islamistischen Terrorguppen umzingelt. Hier droht folglich dasselbe Szenario wie damals in Afrin, als islamistische Milizen die Stadt plünderten und die kurdischen Einwohner vertrieben. 

Seit dem Jahr 2016 führte die Türkei drei völkerrechtswidrige Militäroperationen auf syrischem Gebiet durch und hält unter dem Vorwand der Bekämpfung der Kurden seitdem weite Teile des Landes besetzt. Russland und die syrische Regierung intensivierten in den letzten Tagen ihre Artillerie- und Luftschläge auf die Provinz Idlib. Das macht deutlich, dass Putin und Erdoğan ihre Differenzen in Sotschi nicht beilegen konnten. 

Laut Moskau nutzen radikale Dschihadisten die türkischen Militärposten in und um Idlib als Schutzschild, um die syrische Armee anzugreifen. Das wird Russland auf Dauer nicht tolerieren, sodass die syrische Armee früher oder später grünes Licht zur Rückeroberung Idlibs erhalten wird. Den türkischen Bedenken bei der Kurden-Frage wird Russland auch nur dann Beachtung schenken, wenn die Türkei die Wiederherstellung der syrischen territorialen Souveränität akzeptiert.

Die Komplexität des Konflikts in Syrien macht zwar ein russisch-türkisches Abkommen schwierig, aber Anreize dafür treten nun immer mehr zutage. Die Türkei ist darüber besorgt, dass die USA sich die Option offenhalten, die Karte eines autonomen Kurdistan auszuspielen. Russland wünscht sich hingegen ein Ende des Krieges in Syrien und die Wiederherstellung der territorialen Kontrolle der Regierung über das gesamte Staatsgebiet. Die Türken will ebenfalls, dass das syrisch-kurdische Problem gelöst wird. Nach 10 Jahren Syrien-Konflikt sollten sie also bewusst sein, dass dies am besten durch die Wiederherstellung der syrischen territorialen Souveränität erreicht werden kann. Dieses Vorhaben kann letzten Endes aber nur dann erreicht werden, wenn die Türkei ihre Besatzungstruppen aus Syrien abzieht. 

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