Iran hat mit seinem Atomprogramm nach Ansicht der israelischen Regierung "alle roten Linien" überschritten. Das sagte der israelische Premier Naftali Bennett am Montag in seiner Rede vor der Generalversammlung der UNO in New York. Iran wolle den Nahen Osten beherrschen, behauptete Bennett weiter, unter anderem abgeschirmt durch einen "nuklearen Schutzschirm".
Er forderte die "internationale Gemeinschaft" auf, die nuklearen Aktivitäten Irans zu stoppen. Bennett deutete auch an, dass Israel womöglich selbst gegen Teheran vorgehen könnte, was die Regierung in der Vergangenheit mehrfach angedroht hatte. "Das iranische Atomprogramm hat einen Wendepunkt erreicht, und damit auch unsere Toleranz", fügte Bennett hinzu.
Insgesamt trat Bennett in seiner Rede weniger auffällig auf als Benjamin Netanjahu, den er im Juni als Premier abgelöst hatte. Netanjahu hatte sich oft auf visuelle Hilfsmittel verlassen, um seine Behauptungen gegen Iran zu illustrieren, indem er in seinen Reden oft die Zeichnung einer Bombe zeigte, um die mutmaßliche "Gefahr", die von Iran ausgeht, zu unterstreichen. Irans Vertreter bei der UNO meldete sich mittlerweile zu Wort und bezichtigte den israelischen Premier, in seiner Rede Lügen über Iran zu verbreiten.
"Es steht diesem Regime nicht zu, über unser friedliches (Atom-)Programm zu diskutieren, wenn es Hunderte von Atomsprengköpfen besitzt."
Die USA und Israel sollen unlängst über eine "sichere" Videokonferenzschaltung Geheimgespräche Iran betreffend geführt haben, um einen möglichen "Plan B" zu diskutieren, falls die Gespräche über den Atomdeal (JCPOA) nicht wieder aufgenommen werden. Obwohl Israel in letzter Zeit mehrfach bekannt gab, die Pläne zum Angriff auf iranische Atomanlagen aktualisiert zu haben und bereit sei, unabhängig zu handeln, hätte ein israelischer Erstschlag gegen iranische Atomanlagen düstere Konsequenzen.
Die israelische ZeitungHaaretz kommentiert diesbezüglich, dass ein solcher Angriff wahrscheinlich einen totalen Krieg im Nahen Osten auslösen würde – "ein erschreckendes Szenario", doch sei die Aussicht, im Schatten eines nuklearen Iran zu leben, ebenso erschreckend. Im Einklang mit Bennetts Kriegsrhetorik vor der UN-Vollversammlung geht Haaretz von zwei verbleibenden Möglichkeiten aus.
"Entweder zerstört Israel nach besten Kräften mit Raketen und Bomben Irans Nuklearanlagen, oder es wird in den kommenden Jahren mit einem nuklearen Iran leben müssen. Leider sind das die einzigen Optionen, und es gibt keine anderen."
Die einzige Möglichkeit sei, selbst gegen Iran vorzugehen, da die USA, deren militärische Fähigkeiten weitaus größer als die Israels sind, "die Arbeit nicht für uns erledigen würden", fügte die liberal ausgerichtete Zeitung hinzu.
"Die heutige Situation erinnert an die 1930er-Jahre, als die Westmächte sich entschieden, nicht präventiv gegen ein expandierendes Japan und ein bedrohliches Deutschland loszuschlagen."
Allen israelischen Oberhäuptern, einschließlich Ariel Sharon und Netanjahu, sei bewusst gewesen, dass die Ermordung iranischer Wissenschaftler und kleine Explosionen sowie Wirtschaftssanktionen das iranische Atomprojekt nicht stoppen würden: "Sie alle verzichteten aber darauf, die Luftwaffe zum Angriff auf die Nuklearanlagen einzusetzen."
Es sei sehr wahrscheinlich, dass Teheran auf einen israelischen Angriff auf Atomanlagen massiv reagieren würde, indem es ballistische Raketen und Drohnen auf Israel abfeuerte. Dieser Krieg würde eine "weltweite Kampagne" gegen Israel auslösen und die Hisbollah mit ihren 150.000 Raketen (und vielleicht sogar die Raketenvorräte der Hamas und des Islamischen Dschihad aus dem Gazastreifen) auf den Plan rufen. "Dies würde einen umfassenden Krieg im Nahen Osten bedeuten."
Die zweite Option sei sicherlich "ein erschreckendes Szenario", aber möglicherweise "weniger erschreckend" als die Alternative, und zwar ein nuklearer Iran, mit dem Israel jahrzehntelang leben müsste. Selbst wenn Teheran nicht irgendwann einen Atomschlag gegen Israel starte, würde ein atomares Iran "das Leben in Israel und seine Stellung in der Region" beeinträchtigen.
"Ein nuklearer Iran würde Israel wirtschaftlich schwer schaden. Es erforderte enorme Verteidigungsausgaben (Atombunker, Massen von Raketenabwehrbatterien), Ausländer hätten Angst, in Israel zu investieren, und Israelis wanderten in Scharen in sicherere Gefilde nach Übersee aus. Potenzielle jüdische Einwanderer nach Israel bleiben wahrscheinlich lieber, wo sie sind, oder zögen woandershin."
Der Haaretz-Autor kommt zu dem Schluss, die Zeit dränge: "Der Moment, in dem Israel sich entscheiden muss, ob es einen Präventivschlag starten oder sich mit einem nuklearen Iran abfinden und in seinem Schatten leben muss, ist sehr nahe."
Iran hatte vor einigen Monaten begonnen, Uran auf 60 Prozent anzureichern. Der Schwellenwert der Urananreicherung für eine militärische Nutzung von Atomkraft liegt bei 90 Prozent. Irans neuer Präsident Ebrahim Raisi verknüpfte kürzlich die Gespräche über das iranische Atomprogramm mit der Forderung nach der Aufhebung aller Sanktionen gegen das Land, wie es schon im Atomdeal von 2015 vorgesehen war.
Mehr zum Thema - Satellitenbilder: Israel baut seine Nuklearanlage in Dimona insgeheim aus