Nach fast 20 Jahren begann am 1. Mai der Rückzug der NATO-Truppen aus Afghanistan. Darauf folgte eine Offensive der militant-islamistischen Taliban, die nun bereits neun von 34 Provinzhauptstädten beherrschen.
Doch für Experten ist die Rückkehr der Taliban nicht gerade überraschend: Der Politikwissenschaftler Jorrit Kamminga vom niederländischen Clingendael-Institut für Internationale Beziehungen, der seit Jahren für die Nichtregierungsorganisation ICOS in Afghanistan tätig ist, erklärte im Interview mit RT DE, dass das Tempo der jüngsten Entwicklungen zwar alle überrascht habe, aber die Entwicklung generell vorhersehbar gewesen sei. 2010 habe man mit der Planung für die Übergabe der Sicherheit begonnen, diese jedoch nie abgeschlossen:
"Die afghanischen Sicherheitskräfte wurden nie so zuverlässig und unabhängig, wie wir es wollten."
Der schnelle Vormarsch der Taliban ist nach Ansicht von Kamminga auch das Ergebnis eines zu übereilten Abzugs der internationalen Streitkräfte, ohne zuvor ein grundlegendes Niveau an politischer Stabilität und Sicherheit in Afghanistan erreicht zu haben. Teilweise sei dies auf den seit 2018 von den USA forcierten Friedensprozess zurückzuführen, der vor allem von den Taliban dominiert wurde. Die USA hätten nach Kammingas Meinung nur sehr zweifelhafte Sicherheitsbedingungen und Versprechungen von den Taliban erhalten.
Der Historiker und Orientalist Matthias Hofmann ist hingegen der Ansicht, dass es eher ein Problem war, dass man die Taliban nicht schon viel früher in Gespräche eingebunden habe. Dies hätte bereits der frühere afghanische Präsident Hamid Karzai im Jahr 2006 gesagt. Bei den Taliban handle es sich laut Hofmann nicht um eine homogene Gruppe, was das ganze natürlich komplizierter mache. Diese jedoch von den Gesprächen von vornherein auszuschließen, sei ein Fehler gewesen. Dadurch stärke man die ausgeschlossene Gruppe nur und sorge dafür, dass diese alles torpedieren, was die anderen Interessengruppen in Afghanistan auf den Weg gebracht haben.
Dass die Taliban so schnell an Boden gewinnen, sei nicht überraschend, da sie durch ihre Guerilla-Taktik sehr viel besser organisiert seien. In der Vergangenheit haben dies beispielsweise die USA in Vietnam und die Sowjetunion in Afghanistan erfahren, und die afghanische Armee sei nicht so ausgestattet, dass sie effektiv Widerstand leisten könne, da sie kaum über Fahrzeuge und Hubschrauber verfüge.
"Und viele afghanische Soldaten fragen sich: Für wen oder was sollen sie denn hier eigentlich kämpfen? Für einen Staat, der gegebenenfalls nicht hinter ihnen steht?"
Ein weiteres Problem sei, dass die NATO-Truppen von Anfang an keine "Out-Strategie" hatten:
"Wenn ich in ein Land hingehe, muss ich auch überlegen: Wie komme ich aus dem Land wieder heraus", sagte Hofmann im Interview mit RT DE.
Eine solche Strategie sei jedoch nie entwickelt worden, auch wenn dies immer wieder kritisiert wurde. Dass eine militärische Lösung des Konflikts generell möglich sei, ist ohnehin zweifelhaft. In Bezug auf die letzte Äußerung von Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die am Montag auf Twitter postete: "Wer die Taliban dauerhaft besiegen will, muss einen sehr harten und langen Kampfeinsatz führen", erklärte Kamminga beispielsweise:
"Die Taliban zu 'besiegen', macht keinen Sinn. Wir haben es zwanzig Jahre lang versucht, und wir haben sogar versucht, sie 'irrelevant' zu machen. Es hat nicht funktioniert, nicht einmal mit 52 truppenstellenden Ländern und mehr als 130.000 internationalen Truppen in Afghanistan."
Zudem werde ein "Sieg über die Taliban" nie zu einer politischen Lösung führen, da es sich auch bei den Taliban um Afghanen handle. Eine politische Lösung sei jedoch der einzige Weg, den Konflikt zu lösen:
"Es ist sehr komplex, aber wir hätten in den letzten Jahren viele Fortschritte machen können, wenn wir einer politischen Lösung den Vorrang gegeben hätten, anstatt uns hinter leeren Slogans wie 'afghanische Eigenverantwortung' oder 'Wir verhandeln nicht mit Terroristen' zu stellen."
Nach Ansicht von Hofmann sei es zudem ein Fehler gewesen, die Taliban von Anfang an als "Terroristen" zu betrachten, da dies nicht zu einer politischen Lösung führen könne. Für eine solche müsse man mit allen politischen Gruppierungen Gespräche führen. Auch Kamminga wies im Gespräch mit RT DE darauf hin, dass nie eine militärische Lösung für diesen Konflikt gegeben hat:
"Es gab nie eine militärische Lösung für diesen Konflikt. Der Rückzug der internationalen Streitkräfte ist an sich eine gute Idee. Das eigentliche Problem bestand darin, dass die internationale Gemeinschaft zwei Jahrzehnte lang eine politische Lösung verhindert hat. Der Rückzug hätte durchaus geordneter ablaufen können: Der Abzug der US-Streitkräfte von der Militärbasis in Bagram mitten in der Nacht war eine Schande."
Für die Sicherheit in Deutschland und Europa sei die Dominanz der Taliban in Afghanistan im Übrigen nicht entscheidend, erklärte Kamminga mit Blick auf das bekannte Zitat des ehemaligen Bundesaußenministers Peter Struck: "Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt":
"Die Taliban haben vor allem eine nationale Agenda, und man hätte sie wahrscheinlich nie als Terroristen deklarieren sollen, da dies die europäischen Politiker jahrelang daran gehindert hat, mit ihnen zu sprechen."