Dass das israelische Militär im Gazastreifen eine horrende Verwüstung der zivilen Infrastruktur hinterlassen hat und Ziele angriff, in denen sich Unbeteiligte in ihrem Zuhause, der zivilsten aller Umgebungen befanden, ist aus mehreren Gründen noch nicht aufgearbeitet.
Unterdessen mehren sich Berichte über Gräueltaten, welche Siedler selbst bei der Vertreibung der Palästinenser verüben. Meist bleibt es dabei, die Opfer zu terrorisieren oder zu verletzen. Ismail Tubasi, ein Bewohner südlich von Hebron im besetzten Westjordanland, kam Medienberichten zufolge jedoch womöglich auf höchst gewaltsame Weise zu Tode.
Zeugen berichten, israelische Siedler hätten auf Tubasi geschossen, nachdem diese begonnen hatten, Felder und Bäume im Besitz von Palästinensern in al-Rihiya in Brand zu setzen. Eine Vorgehensweise, die nicht unüblich ist. Laut der Menschenrechtsgruppe Yesh Din sind 216 Beschwerden über Siedlergewalt allein zwischen Januar 2020 und Juni 2021 eingegangen. Ein aktueller Bericht der Organisation listet 63 Fälle von schweren Übergriffen in den Jahren 2017 bis 2020 auf. In keinem dieser Fälle wurde Anklage gegen die Täter erhoben.
Der 27-jährige Tubasi sei wie auch andere Palästinenser zu den Feldern gegangen, um die Flammen zu löschen. Den Augenzeugen zufolge sollen ihn dann mit Gewehren, Äxten und Schlagstöcken bewaffnete Siedler verfolgt haben. Mehrere Schüsse seien zu hören gewesen.
Wie das von israelischen und palästinensischen Journalisten betriebene Magazin +972 schreibt, sah ein Zeuge Tubasi auf dem Boden liegen, nachdem er von einer Kugel getroffen worden war. Weitere Wunden, welche das Hassan al-Qassam Krankenhaus später feststellte, lassen den Berichten zufolge den Schluss zu, dass Tubasi verstümmelt wurde, während dieser im Sterben lag. Eine Untersuchung des Vorfalls, der sich bereits Mitte Mai ereignet hat, wurde bisher nicht eingeleitet.
Präzise zielende Kampfflieger haben Dutzende Kinder und Frauen getötet
Unterdessen werden vermehrt Informationen zusammengetragen, um die ab dem 10. Mai dieses Jahres im Gazastreifen eskalierte Gewalt zu untersuchen. Die Zahl der im vergangenen Monat in Gaza getöteten Palästinenser liegt bei 256, darunter 66 Kinder. In Israel wurden 13 Menschen getötet, darunter zwei Kinder.
Zu den von israelischen Luftangriffen getroffenen Zielen gehören zudem mehrere Hochhäuser in Gaza-Stadt, darunter das al-Jalaa-Gebäude, in dem Medienorganisationen wie Al Jazeera und Associated Press untergebracht waren. Neben mindestens 2.000 zerstörten und mehr als 15.000 beschädigten Wohneinheiten wurde auch für grundlegende Versorgung des Gazastreifens notwendige Infrastruktur schwer beschädigt. Straßen, die zum al-Shifa-Krankenhaus, der größten medizinischen Einrichtung und dem einzigen COVID-19-Testlabor in der Enklave führen, wurden laut Al Jazeera ebenfalls zerstört. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden während der Kämpfe sechs Krankenhäuser, neun Gesundheitszentren und eine Wasserentsalzungsanlage beschädigt.
Das israelische Militär behauptet, man habe nur Gebäude mit Verbindungen zur Hamas und weiteren bewaffneten Gruppen ins Visier genommen. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu beschuldigte die Hamas, Zivilisten als menschliche Schutzschilde zu benutzen. Diese Version wurde auch von der deutschen Regierung und einigen Medien bekräftigt, als zahlreiche zivile Opfer auf der palästinensischen Seite zu beklagen waren. Demgegenüber konnte die UNO-Menschenrechtsbeauftragte Michelle Bachelet für diese Rechtfertigung der israelischen Anschläge keinerlei Belege finden. Dass sich in den bombardierten Gebäuden vermeintlich bewaffnete Gruppen befanden oder diese "für militärische Zwecke genutzt wurden", sei nicht zu beweisen.
Raji Sourani, Menschenrechtsanwalt und Direktor des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte in Gaza, erklärte dem Sender Al Jazeera, dass der Islamische Dschihad und die Hamas oder die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) gar nicht das Ziel der Angriffe gewesen seien. Er ist der Ansicht, dass die Zivilbevölkerung gezielt unter schwerem Beschuss des israelischen Militärs stand. Sourani erklärte:
"Von der ersten Stunde des ersten Tages an waren Zivilisten das Ziel dieser High-Tech-Flugzeuge F16 und F35 mit Raketen, die für militärische Ziele bestimmt sind. Und man sieht, wie diese Dinger präzise zielen. Dutzende von Kindern und Frauen wurden getötet. Nichts kann das rechtfertigen."
Bereits im Frühjahr hatte der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) angekündigt, eine offizielle Untersuchung der Kriegsverbrechen Israels im besetzten Westjordanland und im blockierten Gazastreifen sowie in Jerusalem einleiten zu wollen. Jedoch sträubten sich sowohl Israel als auch die USA gegen die Aussicht auf eine Untersuchung möglicher israelischer Kriegsverbrechen. Medienberichten zufolge hoffte Israel, dass ein Aufschub der Untersuchungen bis zum Beginn der Amtszeit des neuen ICC-Anklägers Karim Khan Mitte Juni zu einer dem Land gewogeneren Bewertung führen könnte.
In einem offenen Brief verurteilten 55 ehemalige europäische Politiker, darunter Ministerpräsidenten und Außenminister, die Behinderung der Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs. "Zutiefst besorgniserregend ist nun die ungerechtfertigte öffentliche Kritik am Gericht in Bezug auf seine Untersuchung mutmaßlicher Verbrechen, die in den besetzten palästinensischen Gebieten begangen wurden, einschließlich unbegründeter Anschuldigungen des Antisemitismus", heißt es in dem Schreiben, das Ende Mai veröffentlicht wurde.
"Versuche, das Gericht zu diskreditieren und seine Arbeit zu behindern, können nicht toleriert werden, wenn es uns mit der Förderung und Aufrechterhaltung der Gerechtigkeit weltweit ernst ist. Wir verstehen die Ängste vor politisch motivierten Klagen und Untersuchungen. Dennoch sind wir der festen Überzeugung, dass das Römische Statut die höchsten Kriterien der Gerechtigkeit garantiert und einen entscheidenden Weg bietet, um die Straflosigkeit für die schwersten Verbrechen der Welt zu bekämpfen."
Vor dem Hintergrund der Gewalt im vergangenen Monat sagte die amtierende Chefanklägerin beim Internationalen Strafgerichtshof Fatou Bensouda, sie beobachte das Geschehen vor Ort genau.
Beide Seiten werden beschuldigt, Kriegsverbrechen begangen zu haben: Die Hamas, da sie wahllos Raketen auf zivile Gebiete in Israel abgefeuert hat, obwohl von den mehr als 2.000 Raketen nur etwa 640 im Gazastreifen einschlugen und 90 Prozent, die die Grenze überquerten, von Israels Raketenabwehrsystem Iron Dome abgefangen wurden, und Israel, da es wiederholt dicht besiedelte zivile Gebiete innerhalb des Gazastreifens bombardiert hat.
Yael Stein, Forschungsdirektorin bei B'Tselem, dem israelischen Informationszentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten, ist angesichts der bisher vorliegenden Informationen bereits davon überzeugt, dass Israel mit den Bombardierungen ziviler Strukturen innerhalb des Gazastreifens gegen internationales Recht verstößt. Sie hob hervor:
"Damit ein Angriff legal ist, muss er sowohl auf ein militärisches Ziel gerichtet als auch verhältnismäßig sein."
Damit ein Gebäude ein militärisches Ziel ist, muss seine Zerstörung für Israel einen militärischen Vorteil bedeuten. Um verhältnismäßig zu sein, muss man beurteilen, ob der militärische Vorteil, den man sich von der Bombardierung verspricht, größer ist als der Verlust für die Zivilbevölkerung. Selbst wenn die Zivilbevölkerung kurzfristig gewarnt und evakuiert wurde, sei ziviles Eigentum nahezu planmäßig zerstört worden, so Stein. Dem Nachrichtenportal Al Jazeera erklärte sie:
"Ich denke, dass die Vergangenheit beweist, dass die israelische Armee dieses Prinzip in einer viel großzügigeren Weise auslegt, als es die Verfasser des internationalen Rechts es jemals erwartet hätten, und dass dies weit von dem entfernt ist, was als verhältnismäßig angesehen werden kann."
Jahrzehnte der Apartheid
Laut Eric Goldstein, dem Exekutivdirektor für den Nahen Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch, hat bezüglich der Situation ein Wandel im internationalen Bewusstsein stattgefunden. Dies habe die Bereitschaft erhöht, israelische Kriegsverbrechen als solche wahrzunehmen. Er begrüßt, dass der UN-Menschenrechtsrat eine internationale Untersuchung hierzu eingeleitet hat. Human Rights Watch werde darauf drängen, dass der Internationale Strafgerichtshof die Kriegsverbrechen aller Parteien untersucht. Die Hauptursache für die Behinderung eines langfristigen Friedens sei jedoch, dass der Gazastreifen dem größten Freiluftgefängnis der Welt gleichkomme. "Dies lässt die Menschen dort ohne Zukunft, ohne Hoffnung und mit beinahe täglichen Verletzungen ihrer Rechte zurück", so Goldstein. Er fügte hinzu, die internationale Gemeinschaft müsse Druck auf Israel ausüben, um dies zu beenden.
"Sie müssen diese Menschen als menschliche Wesen behandeln, als gleichberechtigte Menschen, die die gleichen Rechte verdienen wie alle anderen Menschen in dem Gebiet unter israelischer Kontrolle."
Goldstein betonte, dass die Unterdrückung der Palästinenser, die "auf eine Situation der Apartheid hinausläuft", den Konflikt nährt und der Hamas so "eine gewisse politische Unterstützung" verschafft. Insbesondere die Vereinigten Staaten müssten "ihre bedingungslose Unterstützung für Israel überdenken", während die Parteien, die die Hamas logistisch oder durch die Bereitstellung von Material unterstützen, dies beenden müssten.
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Die Äußerung des französischen Außenministers Jean-Yves Le Drian, dass das "Risiko der Apartheid hoch" sei, wenn Israel weiterhin "nach einer Einstaatenlogik" handele und den Status quo beibehalte, quittierte Israel jüngst mit einer Rüge.
Jedoch betonten in dieser Woche zwei ehemalige israelische Botschafter, die in Südafrika gedient haben, dass sich Israel heute dem Verbrechen der Apartheid schuldig macht. Ilan Baruch, der als israelischer Botschafter in Südafrika, Namibia, Botswana und Simbabwe diente, und Dr. Alon Liel, ehemaliger israelischer Botschafter in Südafrika und Ex-Generaldirektor des israelischen Außenministeriums, erklärten, es sei an der Zeit, dass die Welt erkenne, dass das, was vor Jahrzehnten in Südafrika geschah, heute in den besetzten palästinensischen Gebieten geschieht. Das System sei von einer inhärenten Ungleichheit geprägt:
"Seit über einem halben Jahrhundert herrscht Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten mit einem zweistufigen Rechtssystem, in dem innerhalb desselben Landstrichs im Westjordanland israelische Siedler unter israelischem Zivilrecht und Palästinenser unter Militärrecht leben."
Israel habe daran gearbeitet, "sowohl die Geographie als auch die Demographie der Westbank durch den Bau von Siedlungen zu verändern, die nach internationalem Recht illegal sind". Durch intensive Investitionen in die Entwicklung der Infrastruktur habe Israel über Jahre hinweg daran gearbeitet, die Siedlungen an Israel anzubinden.
Den israelischen Diplomaten zufolge geschah dies "parallel zur Enteignung und Übernahme massiver Teile palästinensischen Landes, einschließlich der Räumung und des Abrisses palästinensischer Häuser", während die Palästinenser in immer kleinere Landinseln gedrängt wurden. Heute besteht das Westjordanland aus 165 Enklaven, während der Gazastreifen im Jahr 2005, mit dem Abzug der Siedlungen aus dem Gazastreifen und dem Beginn der Belagerung, "einfach zu einer weiteren Enklave" wurde, einem Territorium ohne Autonomie, welches weitgehend von Israel umgeben ist und somit effektiv auch von Israel kontrolliert wird".
Indem die Bevölkerungen schrittweise von ihrem Land vertrieben und in dichten und zersplitterten Gebieten angesiedelt wurden, würden sowohl Südafrika damals als auch Israel heute "politische Autonomie und wahre Demokratie vereiteln". Es sei klarer denn je, "dass die Besatzung nicht vorübergehend ist und dass es in der israelischen Regierung nicht den politischen Willen gibt, ihr Ende herbeizuführen":
"Israel diskriminiert systematisch auf der Grundlage von Nationalität und ethnischer Zugehörigkeit. Eine solche Realität ist, wie wir selbst gesehen haben, Apartheid."
So wie sich die Welt dem Kampf gegen die Apartheid in Südafrika angeschlossen habe, sei es an der Zeit, dass man "auch in unserem Fall entschlossene diplomatische Maßnahmen ergreift und auf den Aufbau einer Zukunft der Gleichheit, Würde und Sicherheit für Palästinenser und Israelis gleichermaßen hinarbeitet," so die israelischen Diplomaten.
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