Am Freitag entschied der Internationale Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, auch für die von Israel seit dem Jahr 1967 besetzten und kontrollierten Gebiete, darunter das Westjordanland, Ostjerusalem und der Gazastreifen, zuständig zu sein. Damit könnten nun Ermittlungsverfahren zu möglichen israelischen Kriegsverbrechen in den entsprechenden Gebieten eingeleitet werden.
Im Dezember 2019 hatte die IStGH-Chefanklägerin Fatou Bensouda erklärt, dass Ermittlungen zu Kriegsverbrechen in den Palästinensergebieten gerechtfertigt seien, da "alle gesetzlichen Kriterien nach dem Römischen Statut für die Einleitung einer Untersuchung" vorlägen.
"Kurz gesagt, ich bin überzeugt, dass im Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, und im Gazastreifen Kriegsverbrechen begangen wurden oder werden."
Die gambische Juristin hatte aber zunächst eine Bestätigung des Gerichts über die juristische Zuständigkeit für die besetzten palästinensischen Gebiete angefordert.
Die nun gefällte Entscheidung des Gerichts ermöglicht die Untersuchung mutmaßlicher Kriegsverbrechen in den israelisch besetzten Gebieten. Die Richter in Den Haag betonten jedoch, dass mit dieser Entscheidung keine Aussage über die Rechtmäßigkeit der Grenzen gemacht werde.
In dem Gerichtsurteil wird auf eine "hinreichende Grundlage für die Annahme" verwiesen, "dass während des Gaza-Krieges 2014 in mindestens drei Fällen Kriegsverbrechen von Mitgliedern der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) begangen wurden, einschließlich der "absichtlichen Durchführung unverhältnismäßiger Angriffe".
Des Weiteren bestünde Grund zu der Annahme, dass Israel "in Bezug auf den Transfer israelischer Zivilisten in das Westjordanland seit dem 13. Juni 2014 Kriegsverbrechen begangen hat".
Zudem heißt es, dass der Umfang eines formellen Verfahrens erweitert werden könnte, um "eine Untersuchung von Verbrechen, die mutmaßlich im Zusammenhang mit dem Einsatz von nicht-tödlichen und tödlichen Mitteln gegen Personen, die an Demonstrationen ab März 2018 teilgenommen haben, durch Mitglieder der IDF begangen wurden, einzuschließen.
Die Untersuchung ergab demzufolge auch Beweise für mutmaßliche Kriegsverbrechen bewaffneter palästinensischer Gruppen, einschließlich der Hamas.
Die israelische Regierung reagierte empört auf die Nachricht aus Den Haag. In einer Erklärung verurteilte das israelische Sicherheitskabinett die Entscheidung des Gerichts als "ungeheuerlich". Der IStGH sei damit als "politisches Gremium entlarvt, dass in einer Reihe mit Organisationen steht, die von antisemitischen Prinzipien geleitet werden".
Da Israel kein Mitglied des Internationalen Strafgerichtshof sei und es sich bei den Palästinensergebieten nicht um einen anerkannten souveränen Staat handele, besäße das IStGH "nicht das Mandat für solch eine Entscheidung". Die Richter in Den Haag verweisen indes auf die eigenen Gründungsstatuten, wonach konkrete Staaten oder Grenzen nicht Voraussetzungen für Verfahren vor dem Gericht sein müssen.
Ohne weitere Details zu nennen, wies das Kabinett "die zuständigen Stellen an, die notwendigen Maßnahmen zur Sicherung der Interessen des Staates und zur Verteidigung seiner Bürger und Soldaten zu ergreifen".
In der Erklärung des Kabinetts vom Sonntag hieß es, der Internationale Strafgerichtshof sei einst eingerichtet worden, "um Gräuel, wie sie von den Nazis gegen das jüdische Volk begangen wurden, zu verhindern". Dies habe sich offensichtlich geändert.
"Stattdessen verfolgt es den Staat des jüdischen Volkes."
Bei diesem Staat handele es sich um "die einzige Demokratie im Nahen Osten". Stattdessen, während das Gericht "die Augen vor den schrecklichen Kriegsverbrechen verschließe, die von unterdrückerischen Regimen wie Iran und Syrien begangen" würden.
Bereits am Freitag hatte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu mit einer sehr ähnlichen Wortwahl Stellung zur IStGH-Entscheidung bezogen:
"Das Gericht ignoriert echte Kriegsverbrechen und verfolgt stattdessen Israel, ein Land mit einem stabilen demokratischen Staatswesen, das die Rechtsstaatlichkeit hochhält und nicht Mitglied des Gerichts ist."
Mit seiner Entscheidung, so Netanjahu weiter, schade das Gericht "dem Recht demokratischer Nationen, sich gegen den Terrorismus zu verteidigen".
Auf diese Weise werde lediglich "Elementen in die Hände" gespielt, die nicht daran interessiert seien, "den Kreis des Friedens zu erweitern".
"Wenn der IStGH Israel wegen erfundener Kriegsverbrechen untersucht, ist das purer Antisemitismus."
Derweil berichtet die Tageszeitung Haaretz, dass sich mehrere Vertragsstaaten des IStGH dazu bereit erklärt hätten, die israelischen Behörden zu warnen, sollten sie Kenntnis von mutmaßlich drohenden Verhaftungen israelischer Staatsangehöriger erhalten. Ebenfalls existiere eine Regierungsliste mit Namen von Entscheidungsträgern und ranghohen Militärs, die aufgrund des Gerichtsentscheids im Ausland verhaftet werden könnten.
Dahingegen begrüßte die Palästinensische Autonomiebehörde in einer Erklärung die IStGH-Entscheidung und forderte, das Verfahren ohne weitere Verzögerungen voranzutreiben.
"Nach fast fünf Jahren der Voruntersuchung erwartet das palästinensische Volk, das vor diesem Gericht Wiedergutmachung sucht, Handlungen, die der Dringlichkeit und dem Ernst der Situation in Palästina entsprechen, und es fordert zu Recht, dass diese Schritte ohne Verzögerung unternommen werden."
Neben der israelischen Regierung kritisierten auch die USA das Urteil des Internationalen Strafgerichtshof umgehend. Der Sprecher des Außenministeriums, Ned Price, twitterte:
"Die Vereinigten Staaten lehnen die heutige (ICC-)Entscheidung bezüglich der palästinensischen Situation ab. Israel ist kein Vertragsstaat des Römischen Statuts."
Auch unter Präsident Biden fühlten sich die USA für Israel und dessen Sicherheit verpflichtet. Daher lehne man jegliche Bestrebungen ab, durch die Israel "unfair" behandelt würde.
Während des Gaza-Kriegs 2014, der der Entscheidung des IStGH zugrunde liegt, ließen nach offiziellen Angaben 2.251 Palästinenser ihr Leben – die große Mehrheit von ihnen Zivilisten. 18.000 Wohnungen wurden beschädigt oder zerstört, und 108.000 Palästinenser wurden obdachlos. Auf israelischer Seite starben 74 Menschen, die Mehrheit unter ihnen IDF-Soldaten.
Bereits kurz nach Ende des Krieges argumentierten auch israelische Experten, dass dieses "bisher nie dagewesene Ausmaß an Todesopfern und Zerstörung (...) kein Zufall" gewesen sei.
So behauptete der ehemalige Scharfschütze der israelischen Armee, Ron Zaidel, dass es sich vielmehr um die "Folge einer bewussten Änderung der Art und Weise" handele, in der Israel Krieg führe.
Mehr zum Thema - US-Außenminister: Iran ist nur wenige Wochen vom Bau einer Atombombe entfernt