Emmanuel Macron erhöhte bei seiner zweiten Reise in den Libanon nach der Explosion in Beirut Anfang August 2020 den Reformdruck auf die Führung des Landes. Frankreichs Präsident sieht sogar eine "letzte Chance".
Bei seinem zweiten Besuch in der libanesischen Hauptstadt innerhalb von kurzer Zeit warnte Macron am Dienstag, langfristige internationale Hilfe werde nur dann ausgezahlt, wenn bis Oktober Reformmaßnahmen eingeleitet worden seien. Dann werde es einen "Folgemechanismus" geben, kündigte er an. Paris werde gegen die libanesischen Eliten Sanktionen verhängen und könne sogar entscheidende finanzielle Hilfe zurückhalten, wenn Beirut keine Reformen durchführe, warnte der französische Präsident. Die Liste solcher Maßnahmen reicht von persönlichen Sanktionen gegen Mitglieder der libanesischen politischen Elite bis hin zur Blockierung eines internationalen Rettungspakets. Notwendig seien Reformen etwa im Energiesektor, im Bankenwesen und in der Justiz.
Um sich unverzüglich der Reformagenda widmen zu können, dürfe die Regierung nicht wieder mit jenen besetzt werden, "die seit Jahrzehnten Reformen ausgesessen, verschleppt oder erstickt" hätten, betonte Macron. "Wenn die Ministerposten wieder mit den gleichen Leuten besetzt werden, dann gibt es wenig Aussichten auf Veränderung", sagte er.
Bernard Émié, Direktor der Direction Générale de la Sécurité Extérieure (DGSE; deutsch: Generaldirektion für äußere Sicherheit), schloss sich derweil den Bemühungen an, den Libanon zu einer neuen Regierung und Reformen zu drängen, heißt es auf Middle East Monitor.
Die Verantwortlichen der politischen Kräfte in dem Mittelmeerland hätten sich darauf verständigt, dass innerhalb der kommenden 15 Tagen eine neue Regierung gebildet werden solle, sagte Macron. Der bisherige Botschafter in Deutschland, Mustafa Adib, war bereits als Premierminister nominiert worden. Die Ernennung stieß jedoch auf Kritik bei der Bevölkerung. Als Macron am Montagabend die berühmte libanesische Sängerin Fairouz besuchte, riefen einige "Nein zu Adib!" Macron nahm überdies am Dienstag nördlich von Beirut an einer Feier zum 100. Jahrestag der Gründung des Libanon teil. Doch der französische Präsident mischt sich wie der Vertreter einer Kolonialmacht in die Politik des Libanon ein und drängt auf die von Paris gewünschten Reformen.
Macron unterstrich bereits, dass der Libanon ein Beispiel für die Koexistenz der verschiedenen Konfessionen sei und keine Gruppen für die Zukunft des Landes ignoriert werden solle. In der Libanon-Frage kreuzen sich die Wege der Franzosen, Amerikaner und Israelis mit unterschiedlichen Interessen und verschiedenen Ambitionen. Mit anderen Worten: Macron fährt im Libanon einen ganz anderen Kurs als die USA und Israel.
Vor Kurzem wurde ein Video veröffentlicht, in dem Macron einen Journalisten verbal attackiert, weil dieser Macrons "geheimes" Treffen mit einem Hisbollah-Führer während seines Libanon-Besuchs enthüllt hatte.
Die Türkei zeigte sich angesichts der wütenden Reaktion Macrons auf den Journalisten besorgt, dass Frankreich für Journalisten immer gefährlicher werde, berichtet RT France. Le Figaro hatte bereits berichtet, dass Macron mit Mohammed Raad, dem Vorsitzenden des Hisbollah-Parlamentsblocks, zusammentreffen will. Zum ersten Mal seit der Gründung der Hisbollah im Jahr 1982 tauschte sich ein französischer Präsident mit Hisbollah-Funktionären aus. Dies geschah bei seinem ersten Besuch im Libanon. Damals betonte Macron laut Jerusalem Post: "Ich möchte mit Ihnen zusammenarbeiten, um den Libanon zu verändern. Sie sollten jedoch beweisen, dass sie sich für libanesische Interessen einsetzen." Der französische Präsident habe der Hisbollah empfohlen, Syrien und den Jemen zu verlassen und sich für den Aufbau des libanesischen Staates einzusetzen, hieß es weiter.
Macrons Kurs im Libanon wurde allerdings von rechtsorientierten Medien in Israel und arabischen Presseagenturen, die die außenpolitische Linie Saudi-Arabiens verfolgen, scharf kritisiert. Frankreichs Präsident habe im Libanon einen falschen Ansatz gewählt und den französischen Einfluss nicht geltend gemacht, um den Einfluss des Iran im Libanon einzuhegen und die Hisbollah zu entwaffnen. Im Gegenteil suche er den Dialog mit der Hisbollah, meldete Al-Arabiya am 3. September.
Die Explosionen Anfang August in Beirut dienten den USA und Israel als Anlass, die Hisbollah scharf anzugreifen, indem sie eine mediale Kampagne gegen proiranische Milizen befeuerten. Im Gegensatz zu jenen Mächten hat das Thema Iran für Macron aber keine Priorität mehr. Den Franzosen geht es sich in erster Linie darum, ihren Einfluss zu nutzen, um die Türkei und deren wachsenden Einfluss auf die Sunniten im Libanon in Schach zu halten. Die Türkei und Frankreich – wir können hier auch von Europa sprechen – streiten gerade an verschiedenen Fronten um Einfluss.
Frankreich kritisierte das militärische Eingreifen der Türkei in Libyen massiv und öffentlich. Im Streit um die östlichen Mittelmeergebiete kam es in letzter Zeit mehrmals zu Zwischenfällen auf See zwischen der Türkei und Frankreich bzw. Griechenland. Ende 2019 unterzeichnete Erdoğan mit der Einheitsregierung in Libyen ein Abkommen über die Abgrenzung der beiderseitigen Wirtschaftszonen im östlichen Mittelmeer – ohne Rücksicht auf die ebenfalls dort gelegenen griechischen Inseln. Die Europäische Union betrachtet die Vereinbarung als völkerrechtswidrig.
Die Libanon-Politik steht allerdings für den Willen Frankreichs, sich angesichts des amerikanischen Rückzugs wieder stärker im Nahen und Mittleren Osten zu engagieren. Macron versucht, in der arabischen Welt seinen Platz zu finden, insbesondere in einer Zeit, in der die Karten dort neu gemischt werden.
Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass Macron am Mittwoch als zweite Station in der Region den Irak besuchte, wo der Iran und die USA um Einfluss ringen. Paris sei besorgt über das Wiederaufkommen von Militanten des Islamischen Staates im Irak, sagte Macron bei seinem Treffen mit Mustafa Al-Kadhimi, dem Premierminister des Irak. Er betonte, dass Frankreich sich für Souveränität des Irak einsetzen will.
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