Seit der verheerenden Explosion in Beirut suchen die Libanesen nach Verantwortlichen. US-Präsident Trump sprach kurz nach der Explosion von einem Angriff durch eine Bombe. Israel machte von Anbeginn die Hisbollah für die Katastrophe verantwortlich, ohne überhaupt eine Untersuchungskommission zu der Katastrophe im Libanon abzuwarten. Der israelische Journalist Ronen Bergman verbreitete die Vermutung, die Hisbollah habe das völlig verschwundene Gebäude für die Lagerung von Raketenteilen genutzt.
Nach der Explosion hat auch Israel seine Hilfe angeboten. Die israelische Regierung sei bereit, libanesischen Opfern auf Zypern medizinische Hilfe zu leisten. Als "Geste der Solidarität" wurde nach der Katastrophe im Hafen Beiruts das Rathaus im israelischen Tel Aviv mit einer Projektion der libanesischen Flagge angestrahlt. "Menschlichkeit ist wichtiger als jeder Konflikt", schrieb Ron Huldai, der Bürgermeister von Tel Aviv, auf Twitter. Die Aktion fand jedoch nicht bei allen Israelis Zuspruch.
Auch viele Palästinenser, ebenso wie viele Libanesen in den sozialen Medien, waren ebenfalls verärgert über den Schritt und bezeichneten ihn als einen "dreisten Akt israelischer Heuchelei". Offiziell befinden sich beide Länder noch immer im Kriegszustand. Israel und der Libanon unterhalten auch keine diplomatischen Beziehungen. Israel hatte bekanntlich seit 1982 im Libanon mehrmals Gebiete besetzt und sich erst im Jahr 2000 notgedrungen aus dem Libanon wieder zurückgezogen.
Die schiitische Hisbollah hat jegliche Verantwortung für die verheerende Explosion im Hafen von Beirut zurückgewiesen. Der Generalsekretär der libanesischen Hisbollah hatte am Freitag in einer Fernsehansprache nachdrücklich betont, dass seine Organisation nichts im Hafen hatte:
Kein Waffenlager, keine Raketen, keine Gewehre, keine Bombe, keine Kugeln, kein Nitrat. Absolut nichts, weder jetzt noch früher noch in Zukunft.
Er wies auch den Vorwurf zurück, dass die schiitische Gruppe den Hafen kontrolliere. Der Generalsekretär fügte hinzu, das Ziel solcher Behauptungen bestehe darin, das libanesische Volk gegen die Hisbollah aufzuwiegeln. Im Gegensatz zur israelischen Seite macht er auch keinen direkten Vorwurf, dass Israel in die Explosionen involviert sei. Er hat lediglich eine unabhängige Untersuchung der Katastrophe im Libanon gefordert.
Es ist eine Tatsache, dass Israel die Explosion offenbar zu seinen Gunsten nutzen will, indem seit den Ereignissen im Libanon begonnen wurde, die Hisbollah durch mediale Angriffe für die Katastrophe und den miserablen wirtschaftlichen Zustand des Libanon verantwortlich zu machen. Die "Kultur der Korruption", die den Libanon vom einem der fortgeschrittensten in der Region zu einem gescheiterten Staat gemacht habe, gehe jedoch nicht auf die Hisbollah zurück. Die Paten dieses Systems seien die Patriarchen der christlichen, der sunnitischen, der drusischen Gemeinschaften im Libanon. Die Schiiten, welche die Hisbollah zu vertreten beansprucht, bildeten zwar schon lange die Mehrheit im Land, doch die meisten von ihnen seien stets zu arm gewesen, um in dem großen Spiel mitzuspielen, heißt es in der Welt.
Die Explosionen in Beirut sind zweifellos ein Wendepunkt für die Hisbollah. Die schiitische Bewegung weiß, dass sich die Aufmerksamkeit nun auf ihr Raketenarsenal richtet, das nach israelischen Angaben in Häusern in der Stadt gelagert wird. In den israelischen Medien kursiert auch seit Tagen eine Rede von Nasrallah, in der er im Februar 2016 angeblich den Israelis drohte, dass Israel durch Beschuss der inzwischen geschlossenen Ammoniak-Lagertanks in der Küstenstadt Haifa besiegt werden könne. Ein solcher Angriff sei mit einem Nuklearschlag vergleichbar.
Tatsache ist allerdings, dass dieser kurze und nun vielfach zitierte Abschnitt aus dem Kontext seiner Rede herausgerissen wurde. In der vollständigen Version des Videos von der Rede betont der Chef der Hisbollah, dass die Hisbollah selbst erst die israelischen Bürger über die Gefahr des Ammoniak-Lagers in Haifa informiert habe. Er wollte eigentlich damit sagen, dass die israelische Führungsschicht selbst für israelische Bürger gefährlicher als jeglicher ausländische Akteur handelt. Die Sicherheitsexperten warnten jahrelang, dass Haifa wegen seiner Anhäufung von Lagerstätten für gefährliche chemische Stoffe in der Nähe von Wohngegenden ein Sicherheitsrisiko darstellt. Im Jahr 2017 untersagte dann endlich ein Gericht den weiteren Betrieb dieser Anlagen – insbesondere, nachdem die genannte Rede von Nasrallah in Israel für Aufsehen gesorgt hatte.
Frankreich pflegt als frühere Mandatsmacht ein besonderes Verhältnis zum Libanon, erst recht jetzt nach der Katastrophe. Paris und Beirut sind eng miteinander verbunden. Bis 1941 stand der Libanon nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches rund 20 Jahre unter französischem Mandat, und der Libanon war in der Tat ein Protektorat Frankreichs. Vor diesem Hintergrund reiste nun Frankreichs Präsident Emmanuel Macron kurz nach der Katastrophe nach Beirut und versprach neben eigenen Hilfslieferungen auch gleich internationale Unterstützung. Macron inszenierte sich damit als die "ehemalige Schutzmacht" und als neuer Retter des Libanon. Und der französische Präsident Macron zeigte das mit einer ganz besonderen Geste: Er twitterte auf Arabisch und sicherte zu, stets Seite an Seite mit dem Libanon zu stehen.
Macron sprach vor Journalisten nach seinem Rundgang in Beirut von einer "neuen politische Ordnung" für das angeschlagene Land, was im Grunde nach Vorschriften einer Kolonialmacht klang. Dass er auch die "internationale Gemeinschaft" und die supranationalen Finanzinstitutionen zur Hilfe aufrief, zeigt auch, dass er die Zukunft des Libanon nicht völlig als die eines französischen Vasallen, sondern als Teil der liberalen Weltordnung betrachtet wissen möchte.
Hier steht dann die Hisbollah im Mittelpunkt der politischen Angriffe, weil Nasrallah für eine selbstbewusste Abkehr von den USA plädiert und den Libanon stattdessen bei Eurasien sieht. Beispielsweise nahm er jüngst Stellung zu den Beziehungen zwischen Libanon und China und sagte, das Abkommen mit China könne das Problem der Energieversorgung zu geringeren Kosten lösen.
Macron ist sich nun dessen bewusst, dass ohne die Hisbollah im Libanon keine Reform möglich ist. Und er betrachtet die Hisbollah – im Gegensatz zu Israel – keineswegs als einen Störfaktor, der ausgeschaltet werden müsste. Wiederum soll Macron in Beirut die Hisbollah als eine der wichtigen Kräfte im Libanon bezeichnet haben, und er halte eine Lösung ohne Hisbollah für unvorstellbar.
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