von Zlatko Percinic
Das politische System des Iran, dessen Grundlage auf dem sogenannten Welajate-Faghi-System basiert, ist komplexer, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Zwar steht seit 1979 der Oberste Revolutionsführer an der Spitze, doch dieser ist mitnichten ein mit totaler Macht ausgestatteter Diktator. Ein kompliziertes System bestehend aus Wächterrat, Expertenrat, Schlichtungsrat, Parlament, Präsident und Oberstem Nationalem Sicherheitsrat kämpft um Macht, Einfluss und den Kurs, den das Land gehen soll. Am Ende entscheidet zwar der Oberste Revolutionsführer, ob dieser oder jener Kurs auch gegangen wird, doch die Politik wird von anderen ausgearbeitet.
Wie auch in anderen Ländern gibt es im Iran zwei grundsätzliche politische Strömungen, deren Erfolg bei Wahlen einerseits von der innenpolitischen Arbeit der Regierung im Amt abhängig ist und andererseits von außenpolitischen Faktoren: Die Moderaten und die Konservativen, die dazu noch die Unterstützung der Revolutionsgarde genießen.
Mit Präsident Hassan Rohani und Außenminister Mohammed Dschawad Sarif sind seit 2013 zwei Moderate in der Regierung, die dazu noch im Westen ausgebildet wurden. Sie versprachen sich von einer Annäherung insbesondere an die USA eine bessere Entwicklung für den Iran sowie den Beginn einer politischen Normalisierung in den Beziehungen zum Westen.
Trotz heftigster Widerstände und Proteste der Konservativen gab Ali Chamenei, der erst zweite Oberste Revolutionsführer der Islamischen Republik Iran nach Ruhollah Chomeini, der Regierung von Präsident Rohani grünes Licht, mit den USA geheime Verhandlungen aufzunehmen. Auch die EU, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, China und Russland stießen zur Verhandlungsrunde hinzu, sodass am Ende ein Abkommen vereinbart wurde, das das iranische Atomprogramm massiv zurückfuhr. Im Gegenzug sollten die westlichen Sanktionen aufgehoben werden.
Für einen kurzen Zeitraum verstummten die Konservativen, als nach dem Abkommen tatsächlich die Wirtschaft an Fahrt aufnahm und eine Handelsdelegation nach der anderen nach Teheran pilgerte, um neue Verträge abzuschließen. Hassan Rohani konnte beweisen, dass eine Annäherung an den Westen für den Iran durchaus positive Effekte hat und man mit Verhandlungen mehr erreichen kann als durch eine konfrontative Haltung, wie es etwa die Konservativen und die Revolutionsgarde bevorzugen.
Das alles sollte sich mit dem Einzug von Donald Trump ins Weiße Haus in Washington ändern. Im Mai 2018 kündigte er das Atomabkommen auf und verhängte in der Folge noch schwerere Sanktionen gegen den Iran, als es vorher bereits der Fall war. Die USA drängten auch die Europäer dazu, es ihnen gleichzutun, was jedoch nicht gelang. Durch Erpressung schaffte es Washington aber, dass sich europäische Unternehmen wieder aus dem Iran zurückzogen und somit die wirtschaftlichen Effekte des Atomabkommens zunichtegemacht wurden, die sich Teheran erhofft hatte.
Für die Moderaten um Rohani und Sarif war das ein schwerer Schlag. Chamenei sah sich und seine Skepsis gegenüber den USA bestätigt, dass man ihnen eigentlich nicht trauen könne, während die Konservativen insgeheim jubelten. Doch der alles entscheidende Vorfall, der selbst Unterstützer von Rohanis Politik ins gegnerische Lager trieb, war die Ermordung des iranischen Generalmajors Qassem Soleimani durch eine US-Drohne am 3. Januar in Bagdad. Die von den Moderaten aufgestellte Behauptung, dass eine Annäherung an den Westen und selbst ein zurückgefahrenes Atomprogramm zur Sicherheit des Iran beitragen, dass dadurch die Gefahr vor einem militärischen Konflikt zwischen dem Iran und den USA geringer wird, erwies sich als Trugschluss.
Die Konservativen und Hardliner fordern deshalb, dass Teheran endlich einen Strategiewechsel unternimmt. Nicht mit "soft power", sondern nur mit "hard power" könne die Sicherheit des Landes gewährleistet werden. Es werde künftig mehr "offene Konfrontationen zwischen Gut und Böse" geben, schrieb etwa eine der Revolutionsgarde nahestehende Zeitung. Damit benutzen auch die Iraner eine nahezu identische Terminologie wie beispielsweise US-Außenminister Mike Pompeo oder vor ihm Präsident George W. Bush, nur mit umgekehrten Ausgangspunkten.
Im Zentrum dieser "hard power" steht nicht etwa die Atombombe, wie es der israelische Ministerpräsident seit mindestens 1992 behauptet und die Welt davor warnt, dass das iranische Atomprogramm in "drei bis fünf Jahren" so weit wäre. Die stärkste Waffe, die Teheran aufzubieten hat und vor der sich tatsächlich viele fürchten, ist das Raketenprogramm. Selbst Ali Chamenei betont immer wieder, dass die iranischen Raketen eine Quelle der nationalen Stärke sind und wie gut die Ingenieursarbeit ist, um die Waffen treffsicher zu bauen.
Natürlich sind derartige Lobpreisungen Teil der staatlichen Propaganda. Aber mit dem Abschuss einer US-Drohne im vergangenen Jahr und dem Vergeltungsschlag mit ballistischen Raketen auf zwei von den USA genutzte Stützpunkte im Irak bewiesen die Iraner, dass ihr Programm nicht nur heiße Luft ist. Eine weitere Zeitung, die der Revolutionsgarde nahesteht, schrieb, dass diese Antwort auf die Ermordung Soleimanis "die Islamische Republik gegen jegliche ausländische militärische Aggression geimpft" habe.
Glaubt man den Vorwürfen Saudi-Arabiens und der USA, dann steckte der Iran auch hinter dem komplexen Angriff mit Drohnen und Raketen auf die saudischen Ölanlagen am 14. September. Ein UN-Untersuchungsbericht konnte lediglich feststellen, dass die benutzten Raketen aus dem "Iran stammten", nicht aber, wer die Angriffe tatsächlich durchgeführt hat. Die jemenitische Huthi-Bewegung übernahm dafür die Verantwortung, die sich der saudischen Aggression im Jemen seit Jahren erbittert widersetzt.
Die Wirkung dieser Angriffe blieb nicht aus. Die vorherigen Angebote einer "Hormus-Friedensinitiative" des iranischen Präsidenten Hassan Rohani wurden weder in Riad noch in Abu Dhabi oder Dubai erhört. Statt auf gemeinsame regionale Kooperation setzten sie zusammen mit Washington und Jerusalem auf Konfrontation gegenüber Teheran. Das änderte sich aber nach den Angriffen auf die Ölanlagen. Die mächtigen Kronprinzen Mohammed bin Salman (MbS) und Mohamed bin Zayed Al-Nahyan (MbZ) fuhren ihre anti-iranische Rhetorik zurück, während die drei Länder über Geheimkanäle Gespräche aufnahmen.
Diese Entwicklung bestätigte allerdings die Sichtweise der Konservativen, dass nur durch "hard power" die Sicherheit des Iran gewährleistet werden könne. Bei den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr könnte sich daher ein Kandidat aus dem Lager der Hardliner durchsetzen, falls die Europäer es in den nächsten Monaten nicht schaffen, sich vom US-Diktat zu lösen und dem Iran die wirtschaftliche Hilfe zukommen zu lassen, die durch das Atomabkommen in Aussicht gestellt wurde.
Frankreich versuchte vergangenen Herbst mittels einer Initiative, zwischen Washington und Teheran zu vermitteln. Präsident Emmanuel Macron lud sogar überraschend den iranischen Außenminister Sarif zum G7-Gipfel in Biarritz ein, in der Hoffnung, dass es zu einem persönlichen Aufeinandertreffen mit US-Präsident Donald Trump kommen würde. Doch diese Initiative wurde vom damaligen Nationalen Sicherheitsberater John Bolton und Außenminister Mike Pompeo sabotiert, wie Bolton in seinem neuen Buch behauptete. Am Ende scheiterte auch Macrons Plan am US-Widerstand, dem Iran eine Kreditlinie von 15 Milliarden US-Dollar zu gewähren, um nach den neu verhängten Sanktionen wieder Vertrauen aufzubauen.
Die Würfel könnten endgültig im Oktober fallen, wenn das UN-Waffenembargo gegen den Iran ausläuft. Washington setzt sich dafür ein, dass das Embargo verlängert wird, stößt dabei aber auf heftigen Widerstand nicht nur Russlands und Chinas, sondern bisher auch der europäischen Vertragspartner des Atomabkommens.
Bei seinem Besuch am Dienstag in Moskau warnte Mohammed Dschawad Sarif davor, dass eine Verlängerung des Embargos das endgültige Aus für das Atomabkommen bedeuten würde. Sein russischer Gastgeber, Außenminister Sergei Lawrow, zeigte sich davon überzeugt, dass es für eine Verlängerung des Embargos "keine gesetzlichen Grundlagen gibt, weder politische noch moralische". Deshalb glaube er weiterhin daran, dass das Atomabkommen gerettet werden könne. Vielleicht spekuliert Moskau darauf, dass sich nach den US-Präsidentschaftswahlen im November eine neue Möglichkeit ergibt, mit Washington in Verhandlung zu treten.
Fest steht aber, dass die USA – und durch ihre Schwäche auch die Europäer – mit der "Kampagne des maximalen Drucks" dazu beigetragen haben, dass die "Modernisierer" und "Reformisten", wie die moderaten Fraktionen im Iran genannt werden, an Einfluss verloren haben. Zulauf bekommt hingegen die Hardline-Fraktion der Paydari (Front der Islamischen Revolutionsstabilität), die sich von Anfang an gegen das Atomabkommen ausgesprochen hatte und auch vom diplomatischen Austausch mit europäischen Ländern nicht viel hält. Sie konnten sich bei den Parlamentswahlen im Februar durchsetzen, was aber auch am Boykott der "Reformisten" lag. Und sie wollen die Präsidentschaftswahlen nächstes Jahr gewinnen.
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