von Karin Leukefeld
Organisationen der syrischen Zivilgesellschaft fordern den UN-Generalsekretär António Guterres auf, Schritte gegen die einseitig verhängten wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen gegen Syrien einzuleiten. Das Leid von Millionen Syrern müsse gestoppt werden.
"Im Namen der zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen der Syrischen Arabischen Republik" fordern die Unterzeichner einer entsprechenden Petition, dass der UN-Generalsekretär "alles in seiner Macht stehende unternehmen und anstrengen" möge, die einseitigen wirtschaftlichen Zwangsmaßnehmen für ungültig zu erklären.
Die "Sanktionen der USA und einiger westlicher Regierungen gegen die Regierung Syriens" richteten sich gegen das gesamte syrische Volk. "In einer Zeit, wo sich die Pandemie des Coronavirus COVID-19 international ausbreitet und nach zehn Jahren, in denen die Ressourcen Syriens ausgeblutet sind, verschlimmern solche Wirtschaftssanktionen das Leid" aller Syrer, heißt es weiter. "Es ist ein humanitäres Verbrechen, zu solchen Sanktionen zu schweigen."
Die zivilgesellschaftlichen Organisationen hoffen mit ihrer Petition, dass Guterres als UN-Generalsekretär eine "wirkungsvolle Rolle" spielen könnte. Er müsse die Staaten, die für die einseitig verhängten Sanktionen verantwortlich seien, "davon überzeugen", die Maßnahmen zu stoppen. Sie verstießen gegen die UN-Charta und das beträfe aktuell besonders den Gesundheitssektor, der in der Abwehr der Pandemie so wichtig sei. Man wende sich nicht nur als zivilgesellschaftliche Organisationen Syriens an den UN-Generalsekretär, man spreche für das syrische Volk als Ganzes wenn man darum bitte, dass die Vereinten Nationen und ihr Generalsekretär die Initiative zur Aufhebung der Zwangsmaßnahmen initiieren und anführen sollten: "Das Leid von Millionen Syrern muss gestoppt werden."
Sanktionen treffen vor allem die Armen
"Die Lage hier ist schrecklich", sagt Elia Samman im Telefongespräch mit der Autorin. "Die strengen Ausgangssperren wegen der Corona-Pandemie verschärfen natürlich alles. Mindestens 40 Prozent der Bevölkerung haben nur zu essen, wenn sie auch Arbeit haben. Die Sanktionen torpedieren den Wiederaufbau. Und jetzt, wo die Geschäfte geschlossen bleiben müssen, haben die Tagelöhner nichts. Sie gehen am Abend hungrig zu Bett."
Schon als Jugendlicher war Samman bei der oppositionellen Syrischen Sozialen Nationalistischen Partei (SSNP) aktiv, die bis Anfang der 2000er Jahre verboten war. Seit Beginn des Krieges 2011 unterstützt er den Kurs der Partei für die nationale Versöhnung in Syrien und arbeitet mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen. An vielen politischen Punkten sei man unterschiedlicher Auffassung, erläuterte Samman, der die Petition mit unterzeichnet hat. Doch in der Frage der Sanktionen seien sich alle einig. "Jeder weiß, dass diese Sanktionen nicht die Regierung, sondern die Syrer treffen, besonders die Armen", sagt Samman. Solange die USA auf den Sanktionen beharrten, werde "keine europäische Firma an uns liefern, keine Bank wird Geld überweisen, alle sind in den Händen der USA."
Für Samman, der für sein politisches Engagement auch inhaftiert war, ist die westliche Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte unglaubwürdig. Das humanitäre Engagement beschränke sich auf die Gebiete in Syrien, die unter Kontrolle der Opposition seien. "Was ist mit dem Rest der Menschen in Syrien, die Hilfe brauchen, sind sie keine Syrer?!"
Die Arbeit der internationalen Hilfsorganisationen in Syrien, auch der UN, wird skeptisch gesehen. Die internationalen Mitarbeiter leben aus Sicherheitsgründen in den besten Hotels am Ort und sind aufgrund der restriktiven Sicherheitsvorkehrungen von weiten Teilen der Bevölkerung abgeschottet. Als "neue Autoritäten" untergraben die UN-Organisationen gesellschaftliche Strukturen, syrische Mitarbeiter werden durch ein hohes Monatsgehalt zu einer neuen gesellschaftlichen Elite. Die internationalen Hilfsorganisationen seien eine Seite der Medaille, erläuterten Geschäftsleute aus Aleppo im Gespräch mit der Autorin. Die andere Seite der Medaille seien die Sanktionen, die staatliche und private Unternehmen daran hindern, zu bauen, zu produzieren, Arbeitsplätze zu schaffen und allen Syrern ein Leben in Würde zu ermöglichen.
Im Westen werden einseitig verhängte Wirtschaftssanktionen als Teil der neuen Diplomatie im 21. Jahrhundert betrachtet. In einer Veröffentlichung der regierungsnahen und in Berlin ansässigen Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) heißt es, die Märkte seien die "neuen Schlachtfelder". Die Verhängung von Wirtschaftssanktionen ermöglichte es, "den Entscheidungsträgern in den USA und Europa, ihren Gegnern genauso hohe politische und wirtschaftliche Kosten wie mit einem Kriegseinsatz aufzuerlegen, um deren Entscheidungsfindung zu beeinflussen".
Trotz Corona-Pandemie: USA und EU halten an einseitigen Zwangsmaßnahmen fest
Seit sich der Coronavirus weltweit verbreitet, gibt es eine Fülle von nationalen und internationalen Initiativen gegen die einseitig verhängten wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen.
Am 24. März hatte UN-Generalsekretär António Guterres die G20-Staaten aufgefordert, alle Sanktionen aufzuheben, die die Einfuhr von Nahrungsmitteln, Medikamenten und medizinischer Ausrüstung verhindern – ohne Erfolg. Der russische Präsident Wladimir Putin schlug einige Tage später beim G20-Treffen ein Moratorium für Sanktionen vor, die Lieferung lebenswichtiger Waren und finanzielle Transaktionen müssten erlaubt werden. Die Corona-Pandemie sei für die von Sanktionen betroffenen Staaten eine "Frage von Leben und Tod", so Putin bei der Videokonferenz. Man solle "grüne Korridore, frei von Handelskriegen und Sanktionen" einrichten, um die Versorgung mit Medikamenten, Nahrung, Ausrüstung und Technologie sicherzustellen.
In seiner Osterbotschaft forderte auch Papst Franziskus auf, Sanktionen zu beenden. Die Initiative Christliche Solidarität International forderte von Bundesaußenminister Heiko Maas eine neue Syrien-Politik und ein Ende der Wirtschaftssanktionen. Unterzeichnet wurde das Schreiben auch von syrischen Geistlichen, die sich seit Jahren für die Aufhebung der Sanktionen einsetzen.
In Deutschland und Luxemburg wandten sich die Kommunistischen Parteien ebenfalls an ihre jeweilige Regierung und forderten, die einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen aufzuheben. In den USA verfasste der US-Peace-Council einen offenen Brief an die US-Administration und an die Vereinten Nationen und forderte ebenfalls ein Ende aller wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen.
Ende März hatten die UN-Botschafter von acht Staaten, die von den einseitigen wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen der USA und der EU betroffen sind, an den UN-Generalsekretär geschrieben und ihn aufgefordert, sich für die Aufhebung der einseitig verhängten Sanktionen einzusetzen. Sie seien völkerrechtswidrig und widersprächen der UN-Charta und sie hinderten die Staaten daran, ihre Bevölkerung umfassend vor der Gefahr der Corona-Pandemie zu schützen.
Der UN-Sonderberichterstatter für die negativen Auswirkungen von einseitigen Strafmaßnahmen, der algerische Diplomat Idriss Jazairy, warnte, dass die weitreichenden einseitigen Sanktionen der USA gegen den Iran die Corona-Pandemie zu einem Massaker machten.
Auch die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Nahrung, Hilal Elver, forderte, die Sanktionen aufzuheben. Wenn die Welt angesichts der Corona-Pandemie neue Beziehungen der Solidarität entwickeln wolle, sei es "eine humanitäre und praktische Dringlichkeit, die einseitigen wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen sofort zu beenden", sagte die Diplomatin. Solche Maßnahmen weiter gegen Syrien, Venezuela, den Iran, Kuba und Simbabwe aufrechtzuerhalten, untergrabe das Grundrecht auf ausreichende und angemessene Nahrung.
Anfang April legte die Russische Föderation der UN-Vollversammlung einen Resolutionsentwurf vor, in dem die internationale Unterstützung der Weltgemeinschaft in der Abwehr der Corona-Pandemie auch die Aufhebung der einseitigen wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen umfassen sollte. Der Resolutionsentwurf, der von der Russland und 28 weiteren Staaten unterstützt wurde, scheiterte am Widerstand der USA, der EU und ihrer osteuropäischen Partner Ukraine und Georgien.
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