von Karin Leukefeld
"Wie lange wird es dauern, bis die Menschen hierher zurückkehren?" Joseph B., der mich in Syrien seit Jahren begleitet seufzt, als der Wagen durch eines der vielen verlassenen Dörfer fährt. Wir sind in der östlichen Provinz Idlib auf der Sinjar-Route unterwegs, einer Landstraße, die von Aleppo nach Hama führt.
Auf dem Weg nach Hama wollen wir bei Abu Dhuhour haltmachen, wo es einen humanitären Korridor gibt. Er wurde im September 2019 von der syrischen Regierung und dem russischen Zentrum für die nationale Versöhnung der verfeindeten Seiten in Syrien eingerichtet, damit Menschen aus den umkämpften Gebieten in Idlib sich in Sicherheit bringen konnten.
Abu Dhuhour liegt im Osten der Provinz Idlib und war das administrative Zentrum verstreut liegender Dörfer und Weiler. Zwischen der Wüste im Osten und den fruchtbaren Weiten im Westen des Landes lebten vor dem Krieg etwa 40.000 Menschen. Sie bearbeiten ihre Felder, hatten Schafe und Ziegen, auch Kühe und lebten von ihrem Vieh. In manchen Dörfern wurden die Abaieh, die traditionellen Mäntel der Beduinen hergestellt.
Aber das war einmal. Heute liegen die meisten der Dörfer verlassen. Nur ab und zu sieht man Männer, die am Straßenrand Werkstätten für die Reparatur von Autos und Reifen geöffnet haben. Kinder spielen, Frauen balancieren Körbe auf ihren Köpfen. Hier sind die Schulen wieder geöffnet und es gibt wieder Wasser und Strom. Ein staatliches Versöhnungsprogramm versucht, die Menschen wieder zusammenzuführen.
Die Sinjar Straße ist übersät mit tiefen Schlaglöchern, an vielen Stellen ist der Asphalt so zerstört, dass man auf die angrenzenden Felder ausweichen muss. Der Winterregen hat die Straße über lange Strecken in eine Schlammpiste verwandelt und dennoch fahren hier hoch beladene Lastwagen und Minibusse hin und her. Wie durch ein Wunder kommt es bei teilweise waghalsigen Überholmanövern oder wenn zwei Lastwagen sich begegnen nicht zu Unfällen. Kein Fahrer ist bereit, dem anderen auszuweichen oder den Weg freizugeben. Wir sind in Idlib, denke ich mir. Hier gibt keiner nach.
Nahe bei Abu Dhuhour liegt ein Militärflughafen der syrischen Streitkräfte. Von 2012 bis 2018 war der Flughafen unter Kontrolle der "Freien Syrischen Armee" und Dschihadisten. Im Januar 2018 wurde Abu Dhuhour von der syrischen Armee wieder eingenommen. Erst die Militärbasis, dann der Ort. Nun ist das Gebiet mithilfe russischer Militärpolizei gut gesichert. Wie nah wir an der Frontlinie Idlib sind, sehen wir an unseren Mobiltelefonen. Sie zeigen einen türkischen Mobilfunkanbieter an.
Der humanitäre Korridor bei Abu Dhuhour liegt an diesem Tag verwaist. Nur wenige Menschen kamen im Oktober und November des vergangenen Jahres, um in Aleppo Schutz vor weiteren Kämpfen zu suchen. Nun kommt niemand mehr. Die mobile Gesundheitsstation ist abgezogen, auch die Hilfspakete des russischen Versöhnungszentrums sind verschwunden. Der Ort Abu ad Dhuhour ist schwer zerstört, Lastwagen drängen sich durch die Ruinen. Die einen fahren die Sinjar Straße, um schneller von Aleppo nach Hama oder umgekehrt zu kommen. Andere bringen Güter zur Militärbasis oder zu den Dörfern der Umgebung.
An einem mit Plastikblumen geschmückten Kontrollpunkt kommen wir zum Stehen. Fotos sind nicht erlaubt, doch der Militärpolizist, der mit anderen dort die Fahrzeuge kontrolliert, begrüßt uns mit großem Hallo. "Erinnert Ihr Euch? Vor einigen Monaten haben wir uns in Al Andarin getroffen, der byzantinischen Festung in der Wüste, der Ausgrabungsort", lacht er. Als er hört, dass wir auf dem Weg nach Idlib sind, an die Frontlinie, wird er ernst. "Passt gut auf Euch auf. Vielleicht treffen wir uns dort schon bald wieder!"
In der ehemaligen Pufferzone Idlib
Am nächsten Morgen treffen wir in Hama zunächst Herrn Nasr, von der Presseabteilung Hama. Gemeinsam geht es zum Hauptquartier der Armee, das aufgrund des Krieges in der örtlichen Bahnstation untergebracht ist. Nach einer kurzen Information über die militärische Lage machen wir uns mit Oberst Ayman auf den Weg. Er ist von der Medienabteilung der Syrischen Streitkräfte und hat uns schon früher entlang der Frontlinie in Idlib begleitet. Gemeinsam waren wir in Mhardeh und in Skelbieh, zwei Orte die überwiegend von orthodoxen Christen bewohnt werden. Im Oktober 2019 waren wir in Khan Scheichun, auch um Informationen über den Giftgasangriff zu sammeln, der sich dort im April 2017 ereignet haben soll. Die Opposition beschuldigte die Regierung, die wies die Vorwürfe zurück. Eine Untersuchung durch die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OVCW) fand in Syrien nicht statt, obwohl die syrische Regierung die OVCW-Inspektoren eingeladen hatte. Die westliche Welt wollte und brauchte keine OVCW-Untersuchung vor Ort. Präsident Trump ordnete die Bombardierung verschiedener Militäreinrichtungen in Syrien an.
Heute geht die Fahrt nach Jarjanaz, das nicht weit von Maaret al Numan entfernt liegt. Hier verläuft aktuell die Frontlinie, doch es ist unklar, ob wir Jarjanaz aufgrund der anhaltenden Kämpfe wirklich erreichen können. Herr Nasr hofft zudem, Nachrichten von seinem Bruder zu erhalten. Seit Monaten ist der als Soldat an der Idlib-Front, lange hat die Familie von ihm nichts mehr gehört.
Wir fahren auf der Autobahn M 5, die Damaskus, Homs, Hama und Aleppo verbindet, zunächst Richtung Khan Scheichun. Nach etlichen Kilometern passieren wir den türkischen Beobachtungsposten Morek. Der gleichnamige Ort liegt verlassen.
Dieser türkische Beobachtungsposten entstand Ende 2018 nach der russisch-türkischen Vereinbarung, Idlib zu einer Deeskalationszone zu machen. Um die Provinz wurde eine Pufferzone markiert, die entmilitarisiert werden sollte. Die Türkei hatte die Aufgabe, die in dieser Zone befindlichen Dschihadisten und andere bewaffnete Regierungsgegner zur Abgabe ihrer Waffen und zum Abzug zu bewegen. Dafür baute die Türkei innerhalb der Pufferzone zwölf Beobachtungsposten mit jeweils einigen Dutzend Soldaten.
Die Vereinbarung wurde nicht eingehalten. Aus den Beobachtungsposten wurden Militärbasen, nicht nur über der Basis Morek wurde die türkische Fahne gehisst. Die Dschihadisten um Hay’at Tahrir al Sham, Allianz zur Befreiung Syriens, die ehemalige Nusra Front, die international als Terrororganisation gelistet ist, bauten ebenfalls ihre Stellungen aus und verschärften Angriffe auf die jenseits der Frontlinie liegenden syrischen Orte und Armeeposten. Im Oktober 2019 begann die syrische Armee schließlich eine Offensive und rückte schrittweise in die Pufferzone vor. Zunächst wurde Khan Scheichun wieder eingenommen, dann rückten die Soldaten mit syrischer und russischer Luftunterstützung weiter in Richtung der Provinzhauptstadt Idlib vor. Das erklärte Ziel der Offensive ist es, die Autobahnen M 5 und M 4 (Latakia-Aleppo) wieder vollständig unter staatliche syrische Kontrolle zu bringen.
In Khan Scheichun verlassen wir die Autobahn M 5 und melden uns bei der örtlichen Militärbehörde. Wir halten nur kurz, um unser Ziel zu nennen und die Erlaubnis zu erhalten, weiter in Richtung Jarjanaz zu fahren. Unser Kommen ist angemeldet, die Formalitäten sind schnell erledigt.
Befreite Dörfer in Trümmern
Die Fahrt geht Richtung Osten, nach Al Tamaneh. Rechts und links der Straße liegen Felder, wo in Friedenszeiten Getreide und Kartoffeln geerntet wurden. Bis an den Horizont erstrecken sich Oliven- und Obstbaumplantagen. Besonders berühmt ist diese Gegend für die Fistiq Halabi, die besten syrischen Pistazien.
Jetzt liegt Militär in den Feldern. Zwischen den Obst- und Olivenbäumen sind Armeestellungen mit schwerem Schützengerät zu sehen. Am östlichen Rand der Straße bewahrt ein Erdwall die Autos vor Scharfschützen. Die Zerstörung in den Dörfern und Weilern ist gewaltig.
Es war sehr schwierig, dieses Gebiet zu befreien", erklärt Oberst Ayman auf meine Frage.
Der Widerstand sei stark gewesen, ein Häuserkampf habe stattgefunden, daher die großen Zerstörungen. Die Zivilbevölkerung habe die Dörfer lange vor der Offensive schon verlassen. Rund 40 Dörfer und 200 Quadratkilometer habe die Armee östlich der Autobahn M 5 in den letzten Wochen befreit. Die Kämpfer der Gegenseite, er nennt sie "Terroristen", hätten in dem neunjährigen Krieg viel Erfahrung gesammelt und die Verteidigungsmaßnahmen der syrischen Armee kopiert: "Sie haben Schutzwälle errichtet und kilometerlange Schützengräben gebaut", so der Oberst.
Die führende Kraft in diesem Gebiet sei Hay’at Tahrir al Sham (HTS) gewesen, antwortet er auf meine Frage. "Doch am Ende sind sie alle Nusra Front". Sie verfügten über alle möglichen Waffen, vom Scharfschützengewehr über Raketenwerfer bis hin zu TOW-Panzerabwehrlenkwaffen. Sie seien von Beratern der Türkei, Saudi-Arabiens, den USA und Katars ausgebildet und unterstützt worden. Im direkten Kampf sei die syrische Armee dennoch überlegen, zumal sie von der Luftwaffe unterstützt werde, so der Oberst. Schwierig sei allerdings, dass die Gegenseite Sprengstofffahrzeuge und bewaffnete Drohnen einsetze, dagegen könne man sich kaum verteidigen. Kürzlich konnten sie eine Drohne abschießen, bei der es sich offenbar um eine Spende aus Europa gehandelt habe, so Oberst Ayman. Das Fluggerät trug den Schriftzug "Islamischer Rat Dänemark".
Im Dorf Um Mishlal zeigt Oberst Ayman einen Schützengraben. Er beginnt in einem Wohnhaus und zieht sich dann durch einen Pistazienhain in Richtung des südlich gelegenen Nachbarortes, einer ehemaligen Frontlinie. Der Schützengraben liegt teilweise komplett unter dem Erdreich, ist also eher ein Tunnel.
Dann wieder gibt es Ein- und Ausgänge, die mit Sandsäcken befestigt sind.
"Sesamsamen aus Nigeria" ist auf einem der Sandsäcke zu lesen. Verfallsdatum: 2021.
Er wisse nicht, ob ich noch weiter gehen wolle, wendet Oberst Ayman dann warnend ein: "Da vorne liegen Leichen, die noch nicht abtransportiert wurden." Kaum erkennbar liegen in dem Graben drei Bündel Mensch, Kämpfer der Gegenseite. Jemand hat über ihre Köpfe eine Decke geworfen. Es gebe aktuell sehr viel zu tun, entschuldigt sich Oberst Ayman dafür, dass die Leichen noch nicht abtransportiert worden seien. Der syrische Zivilschutz sei mit der Identifizierung anderer Leichen beschäftigt.
Etwa 100 Meter entfernt tauchen Männer in Zivil zwischen den Pistazienbäumen auf und blicken fragend herüber, bleiben aber auf Distanz. Oberst Ayman geht zu ihnen und erklärt, die Anwesenheit der deutschen Journalistin. Dann winkt er und ruft, wir sollen vorne an der Straße warten. Man werde uns bis zum nächsten Kontrollpunkt begleiten, damit wir die richtige Straße nach Jarjanaz nicht verfehlen.
Während wir auf die Eskorte warten, beobachte ich einen jungen Soldaten, der Wäsche wäscht und auf einer Leine vor einem Haus aufhängt, das weniger zerstört ist als andere Häuser in der Umgebung. Zwei Soldaten putzen im Haus, tragen Matratzen und Stühle heraus, fegen und werfen Müll in eine Tonne. Die Sonne scheint, außer dem Vogelgezwitscher ist es still. Wäre es nicht Frontlinie, könnte man meinen, der Frühjahrsputz habe begonnen.
Hier wird die Front abgesichert, die etwa 15 Kilometer weiter nordwestlich liegt, erfahre ich. Die Soldaten müssen sich selber nach geeigneten Unterkünften umsehen und diese herrichten. Die syrischen Streitkräfte sind nicht in der Lage, Zelte oder auch Kommunikationsmöglichkeiten für die Soldaten zu installieren. Die jungen Männer, die teilweise schon seit Jahren von einer Front zur anderen ziehen, benutzen ihre eigenen Mobiltelefone, um den Kontakt zu den Familien aufrechtzuerhalten. Ansonsten nutzen sie, was andere Menschen in den Häusern zurückgelassen haben. Immerhin werden sie von der Armee mit Obst und einem warmen Essen am Tag versorgt.
Weiter geht die Fahrt im Zickzack über kleine Landstraßen und durch zerstörte Dörfer. Ein Auto fährt uns nun voran und hält schließlich an einem Kontrollpunkt, wo die Überreste eines gesprengten Lastwagens vor einem zerstörten Wachhäuschen liegen. "Hier sind die Terroristen mit einem mit Sprengstoff beladenen Fahrzeug hineingefahren", erklärt Oberst Ayman. Zwei Dutzend junge Soldaten wurden getötet. Es ist still, nur die Vögel singen. Über dem Ort spannt sich der weite blaue Himmel.
Die Eskorte verabschiedet sich und fährt zurück, während unser Weg in Richtung Jarjanaz immer holpriger wird. Plötzlich schlingert der Wagen, ein Reifen ist geplatzt, Joseph bringt das Fahrzeug neben einem Obsthain sicher zum Stehen. In Windeseile beginnt er den Reifen zu wechseln.
Währenddessen ruft mich Oberst Ayman zu einem gegenüberliegenden Haus hinüber. Dort haben Soldaten eine große Karte der Provinz Idlib sichergestellt.
Es ist eine Satellitenaufnahme, die auf eine Leinwand gedruckt wurde. Am unteren Rand findet sich das Logo von Ahrar al-Sham, der Islamischen Bewegung der freien Männer Syriens, wie der Name übersetzt heißt.
Wir finden hier viele solcher Karten und Hinweise darauf, dass die Türkei und NATO-Staaten Unterstützung leisten", sagt einer der Soldaten.
Die Kämpfer hätten gar nicht die technische Möglichkeit, selber solche Karten herzustellen, sagt er. "Machen Sie ein Foto und zeigen Sie es Ihrer Regierung", lacht er und spannt mit einem anderen Soldaten die Karte vor mir auf. "Deutschland unterstützt diese Leute doch auch."
Jarjanaz
Wenig später erreichen wir Jarjanaz. Wir hören vereinzelt das Grollen von Kampfjets, Haubitzen und Mörsergranaten. Maaret al Numan liegt etwa 10 Kilometer von Jarjanaz entfernt Richtung Westen. Vor dem Krieg lebten hier etwa 10.000 Menschen, heute liegt der Ort in Trümmern.
Außer Militär und Milizionären gibt es niemanden. Die Stimmung ist angespannt, darüber kann auch ein Grillstand nicht hinwegtäuschen, der von einigen Soldaten umringt ist, die sich ein Kebab gönnen wollen. Fotos sind nicht erlaubt, also laufe ich einige Hundert Meter die Straße entlang bis zum zentralen Platz und achte bei meinen Fotos darauf, keine Menschen zu fotografieren: ein Park, die Hauptstraße, die alte Polizeistation, aufgestapelte Plastikstühle, ein Rosenstock.
Ein Jeep mit abgedunkelten Fenstern hält mit quietschenden Reifen und eine harsche Stimme aus dem Inneren weist Joseph und Herrn Nasr an, die Journalistin in den Wagen zu verfrachten. Dann werden wir zum wachhabenden Feldoffizier gebracht. Ein improvisierter Empfangsraum ist vor einem Geschäft am anderen Ende des Ortes im Freien aufgebaut. Um einen kleinen Tisch stehen Stühle und Sessel, ich werde direkt neben dem kleinen Ofen platziert, der trotz des frühlingshaften Wetters ordentlich Hitze ausstrahlt. Ein Soldat verteilt Fruchtsaft, ein Dutzend Männer steht um uns herum, wir warten.
Als der Offizier schließlich kommt, stellt sich heraus, dass wir uns schon vor einigen Monaten in Khan Scheichun begegnet sind. Er spricht Englisch, trägt kein Rangabzeichen und auch sein Name wird nicht genannt. Der Adjudant an seiner Seite, der Walky Talky und mindestens zwei Mobiltelefone beaufsichtigt, ist der einzige Hinweis, dass es sich um einen hochrangigen Militär mit Verantwortung handelt.
Militärs an der Front ist es generell untersagt, mit Journalisten zu sprechen. Dafür sind die Offiziere der Presseabteilung zuständig, wie Oberst Ayman. Dennoch sind allgemeine Gespräche möglich. Der Feldoffizier beschreibt die Lage trotz gelegentlicher Mörser- und Raketeneinschläge als ruhig. Es werde über einen Waffenstillstand verhandelt, sagt er. Die Armee unterstehe den Anweisungen aus Damaskus, man warte.
Dann meldet sich Herr Nasr zu Wort und erkundigt sich nach seinem Bruder. Der Feldoffizier wendet sich an die umstehenden Soldaten und nickt freundlich: "Ja, Ihr Bruder ist hier, wir rufen ihn." Herr Nasr strahlt und blickt immer wieder erwartungsvoll die Straße auf und ab. Schließlich hält ein Jeep, ein schlanker, geradezu magerer Mann mit Gewehr steigt aus und salutiert vor dem Offizier. Der hochaufgewachsene Mann ist förmlich das Gegenteil zu seinem schwergewichtigen Bruder Nasr. Die Brüder umarmen sich und wechseln leise einige Worte.
Es ist spät geworden. Bald wird es dunkel und Joseph drängt zum Aufbruch. "Nehmen Sie Ihren Bruder mit", sagt der Feldoffizier zu Herrn Nasr. "Und weil Sie mit der deutschen Journalistin gekommen sind, gibt es ein kleines Geschenk", fügt er schmunzelnd hinzu. "Ihr Bruder soll sich nach einer Woche wieder hier melden." Der Regelurlaub für die Frontsoldaten beträgt drei Tage.
Eine Botschaft an die Deutschen
Auf dem Rückweg halten wir noch einmal in Khan Scheichun. Der verantwortliche Feldgeneral lädt uns zu Tee und Gebäck ein, auf den Tischen steht frisches Obst aus der Küstenregion. Der Offizier, der darum bittet, seinen Namen nicht zu nennen, ist ein älterer, freundlich aussehender Mann mit weißem Haar. Er ist umgeben von anderen Uniformierten, die aber nicht vorgestellt werden.
Er freue sich, eine deutsche Journalistin zu treffen, sagt der Feldgeneral. Für Syrien sei es unverständlich, warum Deutschland solche Kämpfer wie in Idlib unterstütze. "Vielleicht wissen Sie noch nicht alles, was diese Kämpfer hier anrichten?", fragt er eher rhetorisch. "Sie haben sogar einen eigenen Nachrichtenkanal, über den sie zeigen, wie sie gegen unsere Soldaten vorgehen." Der Sender "Shabakat Akhbar al Maarek", "der Kanal für Kampfnachrichten", sei im Internet zu sehen.
Der Feldgeneral greift zu seinem Handy und zeigt einige Videoclips, die er vom "Kanal für Kampfnachrichten" kopiert hat: Der Anschlag mit dem sprengstoffbeladenen Fahrzeug auf den Kontrollpunkt ist zu sehen, auch Angriffe mit Drohnen auf Stellungen der syrischen Armee. Die Aufnahmen sind jeweils von Rufen "Allah Akhbar", Allah ist groß untermalt und wurden offenbar ebenfalls von Drohnen gemacht.
Er selber stamme aus einem Dorf, das heute verlassen sei, sagt der Feldgeneral. Der "Islamische Staat" habe es überfallen und 56 Einwohner ermordet, darunter auch eine 75 Jahre alte Frau. Sein Schwager sei von der Nusra Front entführt worden, die hinter fast allen diesen Gruppen stecke, egal wie sie sich nennen würden. Er appelliere an die Deutschen, die Kämpfer in Idlib nicht länger zu unterstützen. "Unsere Kinder in den Gebieten unter ihrer Kontrolle und unter Kontrolle der Türkei, in den Lagern, sie sind seit Jahren nicht mehr zur Schule gegangen", sagt er.
Die Bundesregierung sage, sie unterstütze die Flüchtlinge in den Lagern an der Grenze zur Türkei, wende ich ein. "Die Türkei hat in unserem Land nichts zu suchen", hält der Feldgeneral dagegen. Die jungen Männer dort würden in schlechter Weise gegen ihre Heimat beeinflusst. Sie würden zu Kämpfern erzogen, anstatt ihre Ausbildung zu beenden. Jetzt habe die türkische Regierung sogar angefangen, Syrer als Söldner nach Libyen zu schicken, um dort Krieg zu führen.
Sagen Sie mir, was haben unsere jungen Männer in Libyen zu suchen?!
Die deutsche Bevölkerung habe so vielen Syrern geholfen, die vor dem Krieg geflohen seien. Syrien danke den Deutschen dafür, doch er hoffe, dass die deutsche Regierung ihre falsche Unterstützung für die Kämpfer in Idlib beende. Je länger das anhalte, desto schwerer werde es für die Syrer, miteinander Frieden zu finden.
Es ist dunkel, als wir Hama erreichen. Herr Nasr und sein Bruder verabschieden sich, Oberst Ayman wirkt müde. "Salam, Friede", lächelt er zum Abschied. "Vielleicht fahren wir schon bald zusammen nach Idlib".
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Nachtrag
Hay’at Tahrir al Sham und andere bewaffnete Regierungsgegner sprengten am 25. März 2020 die Al Kafeir Brücke auf der M 4, nahe dem Orte Jisr as Shughour in die Luft. Die türkische Armee sendet derweil weiter Militärkonvois nach Idlib. Der Einmarsch nach Idlib ist – nach Einmärschen 2016, 2018 und 2019 die vierte militärische Invasion der Türkei nach Syrien. Ohne die Zustimmung der NATO könnte das nicht geschehen. Syrien ist gegenüber den Absichten der Türkei misstrauisch und fordert den "vollständigen Abzug der türkischen Besatzungstruppen" aus allen Gebieten im Nordwesten, Norden und Nordosten Syriens.
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