Dr. Maria Sultan ist Generaldirektorin des südasiatischen Instituts "SASSI" (South Asian Strategic Stability Institute). Im Mittelpunkt der Arbeit des Instituts stehen die nuklearen Fragen und Debatten im Zusammenhang mit der Nichtverbreitung von Atomwaffen und der Abrüstung, wobei der Schwerpunkt auf der Suche nach Mitteln und Wegen zur Stärkung des Kapazitätsaufbaus innerhalb und außerhalb der Region liegt. Am 14. Februar tötete ein Selbstmordattentäter im Distrikt Pulwama in Kaschmir über 40 indische paramilitärische Soldaten. Die Verantwortung übernahm die Terrorgruppe Jaish-e Mohammed. Daraufhin flog Indien Angriffe auf deren Trainingslager auf pakistanischem Gebiet. Pakistan reagierte. Laut Dr. Sultan ist die Lage immer noch nicht unter Kontrolle.
Wie würden Sie die derzeitige Lage zwischen Pakistan und Indien bezeichnen? Hat sich diese nach der Eskalation schon wieder beruhigt?
Nun ja, um ehrlich zu ein, so stellen es die Medien dar, aber die Spannungen halten an. Die Führung erkennt nicht das Risiko eines Atomkriegs. Indien hat (auf pakistanischem Gebiet) eine Bombe abgeworfen – das ist ein Kriegsakt. Pakistan antwortete darauf, sich auf das Recht auf Selbstverteidigung zu berufen. Das ist keine Aggression von Pakistan, sondern seine Verantwortung.
Indien will es wie einen internationalen Terrorakt aussehen lassen. (Die Situation in Kaschmir) ist seit 70 Jahren auf der UN-Agenda. Wir (die pakistanische Seite) trafen sechs Ziele in Indien, und sofort reagierte Indien mit der Drohung eines Raketenangriffs. Man kann hier nicht zwischen einer nuklearen und einer nicht-nuklearen Bedrohung unterscheiden. Am ersten Tag des Konflikts kamen sie mit dieser Drohung. Das ist schier inakzeptabel. Am dritten Tag des Konflikts liefen die indischen Militärschiffe in den Indischen Ozean aus. Der Indische Ozean ist für den internationalen Handel von großer Wichtigkeit. Ein Konflikt würde den gesamten Welthandel mit Öl treffen. Das sind sehr ernsthafte Fragen, und leider tat (der indische Premierminister) Modi dies, weil er Wahlen gewinnen will. Es geht (bei dem Konflikt) nicht nur um die Menschen in Kaschmir, sondern um 1,5 Milliarden Menschen in Indien und Pakistan.
Auch die indischen Minister stellten dies als Anti-Terrorangriff dar. Das bedeutet zweierlei: Sie verstehen nicht, was Krieg ist und was für nukleare Folgen ein solcher haben kann. Man kann die Frage nach den Menschenrechten in Kaschmir nicht in Terrorismus umkehren.
In Kaschmir sind schon 150.000 Menschen getötet worden. Es gibt mehr als 600 Massengräber. Indien muss die Fragen nach den dortigen Menschenrechtsverletzungen beantworten. Die Minderheiten haben ein Recht darauf. Das soll nicht heißen, dass Südasien generell ein guter Ort für Minderheiten wäre, aber der Staat muss die Menschen schützen. Wir müssen die moderne Demokratie in Indien überdenken.
Also stellen die internationalen Medien das Thema falsch dar?
Sie (die Medien) untertreiben und versuchen, es als Terrorproblem darzustellen. Aber wenn ich (wie Indien) Streitkräfte zu Wasser, auf dem Land und in der Luft mobilisiere, und ich sage "okay, ich habe ja noch keinen getötet", dann besteht die Gefahr einer Fehlkalkulation. Die Lage ist nicht kontrollierbar. Obwohl es besser geworden ist, wurden die Fakten nicht geändert. Die angespannte Lage wurde nicht deeskaliert. Die indische Marine drang in pakistanische Gewässer ein – verstehen Sie die Folgen dieses Grenzübertritts? Ich denke, dass ist es, was bei der Einschätzung (der Medien) fehlt.
Es gab widersprüchliche Berichte darüber ob, der Angriff auf das Trainingslager der Terrorgruppe Jaish-e Mohammed (JeM) erfolgreich verlaufen ist oder nicht. Laut Neu Delhi wurden zahlreiche Terroristen getötet, Pakistan widersprach.
Sie warfen Bomben neben einem Haus und über Bäumen ab. Die internationale Presse wurde eingeladen, um sich selbst ein Bild des Angriffs zu machen. Die Inder haben die Bomben in einer pakistanischen Provinz abgeworfen. Das ist eine Kriegshandlung. Pakistan reagierte und schoss das zweite indische Kampfflugzeug ab. In Kaschmir sterben Tausende unter der Tyrannei. Die Dynamiken einer Eskalation und die Kosten werden nicht verstanden. Sie verkaufen es als Angriff gegen den Terror.
Die Regierung von Neu-Delhi beschuldigt Pakistan, Terroristen wie JeM zu beherbergen. Jüngst ist die pakistanische Regierung gegen "Madrassas" (Koran-Schulen) vorgegangen. Diese gelten als Kaderschmieden für die Terroristen von morgen. Gibt es für arme Familien keine besseren Möglichkeiten, damit Eltern ihre Kinder nicht auf solche Schulen schicken müssen?
Wir glauben, dass die Madrassas Teil des Wohlfahrtssystems sind. Aber es braucht eine Reform, um Kinder besser auszubilden. Nur weil sie eine religiöse Erziehung erhalten, heißt dies nicht, dass sie sofort zu Terroristen werden. Der Staat muss handeln. Sie können die Kinder in anderen Fächern unterrichten, damit sie später ein nützlicher Teil der Gesellschaft werden. Die Lösung ist, den Menschen mehr Macht zu geben. Das Problem ist nicht die religiöse Erziehung, sondern die Fehlplatzierung der Religion. Die Menschen sind arm, und sie können sich keine andere Schulbildung leisten. Statt die Kinder auszugrenzen, braucht es Reformen. Die Modernisierung dieser Schulen ist bislang nicht geschehen. Man kann diese Kinder nicht einfach auf die Straße setzen. Das Problem sind Verständnislosigkeit und fehlendes Wissen.
Pakistan leidet unter Wassermangel. Im Zuge des neu aufgeflammten Konflikts drohte Indien damit, Pakistan von den Flüssen Ravi, Beas und Satluj abzuschneiden und mit einem Wasserabkommen von 1960 zu brechen. Könnte dieser Konflikt auch zu einem Wasserkrieg führen?
Der Wassermangel ist ein großes Problem. Am 16. Februar teilte die indische Regierung mit, dass sie sich diesen Wasservertrag nochmals anschauen und überdenken wird. Am 28. Februar sagte die Regierung dann, dass sie das Wasser nicht mehr teilen wird. Aber die Wasseraufteilung ist durch die Weltbank garantiert. Hier gibt es Mechanismen, die nur schwer zu umgehen sind. Aber die Tatsache, dass sie damit drohen, führt dazu, dass sie dem Konflikt eine neue Komplexität geben.
Aber kann nicht auch die Demonstration einer neuen "intelligenten" Waffe von Pakistan als Akt der Aggression bewertet werden?
Dies ist Teil einer normalen (militärischen) Entwicklung, aber es zeigt auch, dass kein Krieg limitiert sein kann. Wir verstehen, dass der Krieg ein riskantes Geschäft ist. Wenn sie 30 Menschen töten und einen Krieg entfachen, ist das dennoch eine hochriskante Situation. Wenn man mit Raketen droht, dann wird es zu einer nuklearen Angelegenheit. Es muss verstanden werden, dass Pakistan diese Bedrohung sehr ernst nimmt, und wir uns letztlich auch verteidigen.
Gibt es zwischen Pakistan und Indien Beispiele für eine effektive Zusammenarbeit?
Friedensgemeinschaften gibt es nicht. Wir lösen die Kernprobleme nicht, und es wird zunehmend schwieriger.
Aber besonders Bollywood in Indien ist doch, wie soll ich sagen, muslimisch-pakistanisch?
Auch diese Menschen haben es in Indien schwer. Unter Modi wird die Koexistenz angegriffen. Das heißt nicht, dass hieran die Gesellschaft schuld hat. Modi ist ein großer Nationalist, der auch nicht davor zurückschreckt, Indien und Pakistan eine nukleare Bedrohung zu bescheren. Kaschmir ist das schlimmste menschliche Gefängnis, das man sich nur vorstellen kann. Modi wird wahrscheinlich die nächsten Wahlen gewinnen und diesen Gewinn auf dem Rücken der Toten erzielen. (Eine Eskalation) wäre nicht nur ein Krieg zwischen Indien und Pakistan, sondern hätte Auswirkungen auf die gesamte Welt.
Mit welchen Ländern führt Pakistan derzeit gute bilaterale Beziehungen?
Mit China, den OIC-Ländern, Europa, Japan, Australien, den SAR-Ländern, mit den GSP-Entwicklungsländern (Kongo, Jamaika, Nepal und Tansania). Nur die Beziehungen zu Indien und Afghanistan gestalten sich als schwierig.
Wie lässt sich der Konflikt in Kaschmir lösen?
Die Lage in Kaschmir ist vergleichbar mit der damaligen Situation in Bosnien oder dem heutigen Zustand in Gaza. Die bewaffneten indischen Kräfte in Kaschmir haben das Recht, jeden für mindestens sechs Monate zu verhaften. Sogar Kinder können verhaftet werden. Es gibt wöchentlich Proteste und fünf- bis sechsmal in der Woche Beerdigungen aufgrund von Waffengewalt. Die Menschenrechtssituation ist so wie heute in Gaza oder Jugoslawien damals, und es entwickelt sich zu einem Massenaufstand. Auf der anderen Seite darf indisches Militär zu seinen Taten nicht vor indischen Gerichten befragt werden. Bereits 150.000 Menschen wurden durch den Konflikt in Kaschmir getötet; es gibt 600 Massengräber. Sie werden das Land künftig dem indischen Militär überlassen. Das wird die Bevölkerung weiter aufbringen. Als Kaschmiri wird es immer schwieriger, Land zu erwerben. Die UN muss nach Kaschmir kommen. Die Teilung wurde nicht abgeschlossen. Die Menschen müssen ein Recht auf Leben erhalten. Vielleicht muss die Weltgemeinschaft kommen, um die Gräueltaten zu beenden.
Wir bedanken uns für das Gespräch.
Das Interview führte RT Deutsch-Redakteurin Olga Banach.