Von Rainer Rupp
Kaum einen Monat im Amt, hat Japans neue Ministerpräsidentin Sanae Takaichi bereits eine diplomatische Bombe explodieren lassen. Mit der Aussage, ein "Taiwan-Notfall" stelle eine "existenzbedrohende Situation für Japan" dar, hat sie mit dieser provokativen Einmischung in Chinas innere Angelegenheiten Peking in helle Wut versetzt. Chinas Außenamtssprecher Lin Jian antwortete noch am selben Tag auf X – in Englisch und Japanisch – mit einer unmissverständlichen Warnung: Japan solle "aufhören, mit dem Feuer zu spielen".
Die Äußerungen verstießen eklatant gegen das international – auch vom US-Kongress – anerkannte "Ein-China-Prinzip" und stellen damit einen japanischen Eingriff in Chinas innere Angelegenheiten und eine Verletzung von Chinas Souveränität dar. Sollte Tokio nicht sofort zurückrudern, werde es "alle Konsequenzen selbst zu tragen haben", so Lin Jians Reaktion aus Peking.
Dieser heftige Wortwechsel ist kein Einzelfall, sondern Teil einer Kette von japanischen Provokationen seit der Machtübernahme von Ministerpräsidentin Takaichi in Tokio, die eine zunehmende Einbindung Japans in die amerikanische Konfrontationspolitik gegen China offenbaren. Takaichi, seit Langem als nationale Hardlinerin und politische Erbin Shinzo Abes bekannt, nutzt ihre frische Macht, um – ähnlich wie SPD-Pistorius und Kanzler Merz in Deutschland – den in Japan ebenfalls tief verwurzelten Nachkriegs-Pazifismus abzuschütteln.
Neben der Einmischung in Chinas innere Angelegenheiten gab es noch einen anderen, wahrscheinlich noch wichtigeren Punkt, weshalb die sonst kühlen Chinesen so emotional auf Takaichi reagiert haben. Denn mit der Nutzung des Begriffs "existenzbedrohende Situation für Japan" riss Takaichi wieder alte Wunden auf, die auch nach 80 Jahren noch nicht verheilt sind.
In einer Anhörung im Kokkai, dem japanischen Parlament, am 7. November 2025 erklärte Takaichi auf eine Frage zu einer möglichen chinesischen Blockade Taiwans: Sollten Kriegsschiffe oder bewaffnete Aktionen involviert sein, könne dies eine "überlebensbedrohende Krise für Japan darstellen". Das markierte aus Sicht Pekings, aber auch vieler chinesischstämmiger Bewohner Taiwans einen historischen Bruch mit Japans bisheriger Friedenspolitik: Es ist der erste offizielle Verzicht Japans auf seine "strategische Ambiguität" (Zweideutigkeit) gegenüber Taiwan seit dem Zweiten Weltkrieg.
Damit wird eine Krise in der Taiwanstraße – selbst eine reine Blockade ohne Invasion – von der neuen Ministerpräsidentin in Tokio explizit mit dem "nationalen Überleben Japans" verknüpft. Nach japanischem Recht würde diese Formulierung der Premierministerin die Befugnis geben, die japanischen Streitkräfte – die als "Selbstverteidigungsstreitkräfte" (SDF) firmieren – im Rahmen kollektiver Selbstverteidigung einzusetzen, etwa an der Seite der USA und möglicherweise Taiwans. Das deutet auf eine neue Bereitschaft Japans zu militärischem Eingreifen hin.
Ein YouTube-Gespräch vom 19. November 2025 erhellt, warum die Chinesen so aufgebracht sind, wenn sie hören, dass Japan offiziell wieder den Begriff "existenzbedrohende Situation für Japan" benutzt. In dem YouTube-Gespräch diskutieren der Schweizer Dr. Pascal Lottaz, der an der Universität Tokio lehrt, und Frau Dr. Joanna Lei, eine ehemalige Abgeordnete im taiwanesischen Parlament und resolute Verfechterin des Friedens in der Straße von Taiwan, über den Abgrund des Bösen, den Chinesen mit diesem Begriff verbinden.
Dazu tauchte Dr. Lei tief in die düstere historische Belastung des Begriffs ein, der eine direkte Anlehnung an die Rhetorik japanischer Militaristen vor und während des Zweiten Weltkriegs darstellt. Damals beriefen sich japanische Führer auf "Überlebensbedrohungen Japans", um ihre mit äußerster Brutalität vorangetriebenen Aggressionen in Ostasien, insbesondere aber die Invasion Chinas, zu rechtfertigen. Dies begann mit dem Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg (1895), der zur Annexion Taiwans führte, und steigerte sich durch die Invasion der Mandschurei (1931) bis hin zum totalen Krieg (1937–1945), der über 30 Millionen chinesische Tote, massive Zerstörungen und Gräueltaten wie das Massaker von Nanking forderte.
Dieser Begriff der "Überlebensbedrohung" diente auch zur Begründung des Angriffs auf Pearl Harbor (1941) als präventive "Überlebensmaßnahme". Für China streut die Benutzung dieses Begriffs durch Japans Ministerpräsidentin Salz in immer noch rohe Wunden. Denn Tokio hat sich für seine "enormen Verbrechen", einschließlich biologischer Kriegsführung und Experimenten mit chinesischen Gefangenen und Zivilisten, zum Beispiel durch die berüchtigte Einheit 731, nie entschuldigt.
Dr. Lei wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Japans Nachkriegs-"Friedensverfassung", insbesondere Artikel 9, von den US-Besatzungstruppen diktiert worden war, um genau solche Revanchismen zu verhindern. Takaichis gezielte Verwendung des stark belasteten Begriffs wirkt daher wie eine Wiederbelebung des berüchtigten japanischen Militarismus, zumal die Ministerpräsidentin auch die Überarbeitung militärischer Gesetze und atomarer Restriktionen signalisiert hat.
Pekings Antwort fiel prompt und hart aus – nicht als Überreaktion, sondern als unvermeidlich, angesichts des historischen Traumas. Offizielle Proteste brandmarkten die Aussage, weil sie die Narben aus der mehr als 50 Jahre dauernden japanischen Aggression wieder aufreißen. Peking erließ Reisehinweise, Japan nicht mehr zu besuchen, führte Schießübungen in Grenzgewässern durch und übte diplomatischen Druck in Tokio und bei der japanischen Botschaft in Peking aus, um eine Widerrufung zu erzwingen. Aber all diese Bemühungen wurden von Takaichi beharrlich ignoriert.
Parallel kursieren Berichte aus Regierungskreisen, wonach die Regierung die in Japan bisher heiligen "Drei Nicht-Atom-Prinzipien" auf den Prüfstand stellen will. Sie wurden 1967 erstmals verkündet von Premierminister Eisaku Sato, der dafür 1974 den Friedensnobelpreis erhielt. Mit diesen drei Prinzipien gelobt Japan, weder Atomwaffen zu besitzen, zu produzieren noch deren Stationierung zuzulassen. Nun soll offenbar die Klausel der "Nichteinfuhr" gelockert werden, um US-Atomwaffen-Schiffe künftig wieder ungehindert in japanischen Häfen anlegen zu lassen – unter dem Vorwand "erweiterter Abschreckung". Kritiker sehen darin den Einstieg in einen neuen japanischen Militarismus unter amerikanischem Nuklearschirm.
Die japanische Provokation beschränkt sich nicht auf Worte. Verteidigungsminister Shinjiro Koizumi ließ Taten folgen und kündigte an, auf der winzigen, nur 110 Kilometer von Taiwan entfernten Insel Yonaguni Mittelstrecken- und Flugabwehrraketen zu stationieren. Für Peking ist dies ein rotes Tuch: Die Insel würde zur vorgeschobenen Radar- und Raketenbasis werden, die jede Bewegung in der "Taiwan Strait", der Meeresstraße, die Taiwan vom Festland trennt, überwachen und im Ernstfall blockieren könnte. Chinesische Experten sprechen von einem "konfrontativen Kurs", der Japans bisherige Doktrin der "ausschließlich defensiven Verteidigung" endgültig begraben habe und Tokio zur Speerspitze der aggressiven US-Indo-Pazifik-Strategie mache.
Auf der Insel Yonaguni selbst regt sich Widerstand. Die knapp 1.700 Einwohner fürchten zu Recht, im Konfliktfall zur Zielscheibe zu werden. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Japans, Shii Kazuo, warf der Regierung vor, die Sicherheit der Bürger für amerikanische Interessen zu opfern. Die Parallelen zu Entwicklungen in Deutschland sind nicht rein zufällig. Der chinesische Militärexperte Song Zhongping ging noch weiter: Sollte sich Japan in Chinas "innere Angelegenheiten" einmischen, könnten Pekings Raketen auch die japanischen Hauptinseln erreichen.
Zwischen diesen drei Baustellen – Taiwan-Rhetorik, Revision der drei Atomprinzipien und Raketen auf Yonaguni – spannt sich ein Bogen zunehmender Konfrontation. Japan, wirtschaftlich eng mit China verflochten, balanciert auf einem Drahtseil. Die Straße von Taiwan ist nicht nur ein regionaler Krisenherd ‒ durch die Meerenge fließt ein Fünftel des Welthandels. Ein Konflikt würde Halbleiter-, Energie- und Lieferketten weltweit zum Erliegen bringen.
Sanae Takaichi mag mit ihrer harten Linie innenpolitisch punkten und auf Rückendeckung der Trump-Administration in Washington setzen. Doch jedes weitere Signal in diese Richtung verkürzt den Abstand zum Punkt ohne Wiederkehr. Die Lektion von Hiroshima und Nagasaki, die Japan einst zur weltweiten Stimme für atomare Abrüstung machte, droht unter der Regierung Takaichi zur bloßen Fußnote zu werden. Ostasien steht vor einer gefährlichen Wegscheide – und Tokio hat gerade einen großen Schritt in Richtung Abgrund getan.
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