Von Pepe Escobar
Der russische Präsident Wladimir Putin eröffnete und schloss seine recht ausführliche Rede auf dem Östlichen Wirtschaftsforum in Wladiwostok mit einer durchschlagenden Botschaft: "Der Ferne Osten ist Russlands strategische Priorität für das gesamte 21. Jahrhundert."
Und genau dieses Gefühl hatte man vor der Ansprache, als man sich unter die Führungskräfte aus der Wirtschaft mischte, die sich auf dem atemberaubenden Gelände der erst vor 11 Jahren eröffneten Föderalen Universität des Fernen Ostens tummelten, vor dem Hintergrund der mehr als vier Kilometer langen Hängebrücke, die über die Meerenge des Östlichen Bosporus zur Insel Russki führt.
Die Entwicklungsmöglichkeiten dieser Region, die in Wirklichkeit Russisch-Asien und einer der wichtigsten Knotenpunkte des asiatisch-pazifischen Raums ist, sind buchstäblich überwältigend. Nach Angaben des Ministeriums für die Entwicklung des russischen Fernen Ostens und der Arktis ‒ die von mehreren der auffälligsten Podiumsdiskussionen während des Forums bestätigt wurden ‒ sind sage und schreibe 2.800 Investitionsprojekte im Gange, von denen 646 bereits in die Wege geleitet wurden, einschließlich der Einrichtung mehrerer internationaler fortschrittlicher Sonderwirtschaftszonen und des Ausbaus des Freihafens von Wladiwostok, in dem mehrere hundert kleine und mittlere Unternehmen angesiedelt sind.
All das geht weit über die von Putin 2012, zwei Jahre vor den Maidan-Ereignissen in Kiew, angekündigte "Hinwendung Russlands zum Osten" hinaus. Für den Rest des Planeten, insbesondere für den kollektiven Westen, ist es unmöglich, die Magie des russischen Fernen Ostens zu verstehen, ohne vor Ort gewesen zu sein ‒ angefangen bei Wladiwostok, der charmanten, inoffiziellen Hauptstadt des Fernen Ostens, mit ihren herrlichen Hügeln, der beeindruckenden Architektur, den grünen Inseln, den sandigen Buchten und natürlich dem Endbahnhof der legendären Transsibirischen Eisenbahn.
Was die Besucher aus dem Globalen Süden erlebten ‒ der kollektive Westen war auf dem Forum so gut wie nicht vertreten ‒, war ein Beispiel für nachhaltige Entwicklung: ein souveräner Staat, der den Ton angibt, wenn es darum geht, große Teile seines Territoriums in das neue, aufkommende, polyzentrische geoökonomische Zeitalter zu integrieren. Die Delegationen der ASEAN-Staaten (Laos, Myanmar, Philippinen) und der arabischen Welt, ganz zu schweigen von Indien und China, haben das Bild voll und ganz verstanden.
Willkommen in der "Entwestlichungsbewegung"
In seiner Rede betonte Putin, dass die Investitionsrate im Fernen Osten dreimal so hoch ist wie der Durchschnitt der russischen Regionen, dass der Ferne Osten nur zu 35 % erforscht ist und ein unbegrenztes Potenzial für die Rohstoffindustrie bietet, dass die Gaspipelines Kraft Sibiriens und Sachalin-Chabarowsk-Wladiwostok miteinander verbunden werden und dass sich die Produktion von Flüssigerdgas (LNG) in der russischen Arktis bis 2030 verdreifachen wird.
In einem breiteren Kontext machte Putin deutlich, dass "sich die Weltwirtschaft verändert hat und sich weiter verändert ‒ der Westen zerstört mit seinen eigenen Händen das Handels- und Finanzsystem, das er selbst geschaffen hat". Kein Wunder also, dass Russlands Handelsumsatz mit dem asiatisch-pazifischen Raum im Jahr 2022 um 13,7 Prozent und allein im ersten Halbjahr 2023 um weitere 18,3 Prozent gestiegen ist.
Der Beauftragte des Präsidenten für Wirtschaftsrechte, Boris Titow, zeigt auf, dass diese Neuorientierung weg vom "statischen" Westen unvermeidlich ist. Obwohl die westlichen Volkswirtschaften gut entwickelt sind, sind sie bereits "zu stark investiert und zu träge", so Titow:
"Im Osten dagegen boomt alles, schreitet schnell voran, entwickelt sich schnell. Und das gilt nicht nur für China, Indien und Indonesien, sondern auch für viele andere Länder. Sie sind heute das Zentrum der Entwicklung, nicht Europa, unsere Hauptverbraucher von Energie sind schließlich dort."
Es ist schier unmöglich, dem enormen Umfang und den fesselnden Diskussionen gerecht zu werden, die in den großen Diskussionsrunden in Wladiwostok geführt wurden. Hier ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf die wichtigsten Themen.
Eine Waldai-Sitzung konzentrierte sich auf die kumulierten positiven Auswirkungen von Russlands "Schwenk nach Osten", wobei der Ferne Osten als natürliche Drehscheibe für die Umstellung der gesamten russischen Wirtschaft auf die asiatische Geowirtschaft angesehen wurde.
Dennoch gibt es natürlich Probleme, wie Wang Wen vom Chongyang-Institut für Finanzstudien an der Renmin-Universität betonte. Wladiwostok hat nur 600.000 Einwohner. Die Chinesen würden sagen, dass die Infrastruktur für eine solche Stadt schlecht ist, "also braucht sie so schnell wie möglich mehr Infrastruktur. Wladiwostok könnte das nächste Hongkong werden. Der Weg dazu ist die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen wie in Hongkong, Shenzhen und Pudong (Stadtbezirk von Shanghai)." Das ist nicht schwer, denn "die nicht-westliche Welt begrüßt Russland sehr".
Wang Wen konnte nicht umhin, den Durchbruch des Huawei Mate 60 Pro hervorzuheben: "Sanktionen sind keine so schlechte Sache. Sie stärken nur die Entwestlichungsbewegung", wie sie in China informell genannt wird.
Bis Mitte 2022 war China aus Angst vor US-Sanktionen bei Investitionen in einen "stillen Modus" verfallen, wie Wang es nannte. Doch das ändert sich jetzt, und die Grenzregionen werden wieder als Schlüssel für die Handelsbeziehungen betrachtet. Im Freihafen von Wladiwostok ist China mit seinem Engagement von 11 Milliarden Dollar der wichtigste Investor.
Fesco ist das größte Seeverkehrsunternehmen in Russland ‒ und erreicht China, Japan, Korea und Vietnam. In Zusammenarbeit mit der Russischen Eisenbahn ist das Unternehmen aktiv an der Anbindung Südostasiens an die Nördliche Seeroute beteiligt. Der Schlüssel dazu ist der Aufbau eines Netzes logistischer Knotenpunkte. Die Führungskräfte von Fesco bezeichnen dies als "gigantische Umstellung in der Logistik".
Die Russische Eisenbahn ist an sich schon ein faszinierender Fall. Sie betreibt unter anderem die Transbaikalienbahn, die verkehrsreichste Eisenbahnlinie der Welt, die den Ural mit dem Fernen Osten Russlands verbindet. Tschita, direkt an der Transsibirischen Eisenbahn gelegen ‒ ein bedeutendes Produktionszentrum 900 Kilometer östlich von Irkutsk ‒ gilt als die Hauptstadt der Russischen Eisenbahn.
Und dann ist da noch die Arktis. In der Arktis befinden sich 80 Prozent des russischen Gases, 20 Prozent des Öls, 30 Prozent des Territoriums und 15 Prozent des BIP, aber nur 2,5 Millionen Menschen. Die Erschließung des Nördlichen Seewegs erfordert Spitzentechnologie, wie zum Beispiel eine sich ständig weiterentwickelnde Flotte von Eisbrechern.
Flüssig und stabil wie Wodka
All das, was in Wladiwostok geschah, steht in direktem Zusammenhang mit dem viel beachteten Besuch von Nordkoreas Kim Jong-un. Das Timing war gut gewählt, schließlich ist die Region Primorski Krai im Fernen Osten ein unmittelbarer Nachbar der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK).
Putin betonte, dass Russland und die DVRK mehrere gemeinsame Projekte in den Bereichen Verkehr, Kommunikation, Logistik und Marine entwickeln. Es geht also nicht nur um militärische und weltraumtechnische Fragen, die Putin und Kim freundschaftlich erörterten, sondern auch um geoökonomische Fragen: eine trilaterale Zusammenarbeit zwischen Russland, China und der DVRK, mit dem eindeutigen Ergebnis, dass der Containerverkehr durch die DVRK zunehmen wird und die verlockende Möglichkeit besteht, dass die Eisenbahn der DVRK Wladiwostok erreicht und dann über die Transsibirische Eisenbahnlinie tiefer nach Eurasien vordringt.
Und als ob das nicht schon bahnbrechend genug wäre, wurde in mehreren Gesprächsrunden viel über den Internationalen Nord-Süd-Transportkorridor (INSTC) diskutiert. Der Korridor Russland-Kasachstan-Turkmenistan-Iran wird im Jahr 2027 fertiggestellt ‒ und er wird ein wichtiger Zweig des INSTC sein.
Parallel dazu drängen Neu-Delhi und Moskau darauf, den Östlichen Seekorridor (EMC) ‒ so lautet die offizielle Bezeichnung für die Strecke Wladiwostok-Chennai ‒ so bald wie möglich in Betrieb zu nehmen. Sarbananda Sonowal, der indische Minister für Häfen, Schifffahrt und Wasserstraßen, hat für den 30. Oktober einen indisch-russischen Arbeitskreis zum EMC in Chennai einberufen, um die "reibungslose und rasche Inbetriebnahme" des Korridors zu erörtern.
Ich hatte die Ehre, an einem der entscheidenden Foren teilzunehmen: "Groß-Eurasien: Antrieb für die Bildung eines alternativen internationalen Währungs- und Finanzsystems".
Eine wichtige Schlussfolgerung ist, dass die Weichen für ein gemeinsames eurasisches Zahlungssystem ‒ Teil des Entwurfs der Erklärung der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) für 2030-2045 ‒ vor dem Hintergrund des Hybriden Krieges und der "toxischen Währungen" (83 Prozent der EAWU-Transaktionen umgehen diese bereits) gestellt sind.
Doch die Debatte über einen Korb nationaler Währungen, einen Warenkorb, Zahlungs- und Abwicklungsstrukturen, die Nutzung von Blockchain, ein neues Preissystem oder die Einrichtung einer gemeinsamen Börse bleibt lebhaft. Ist das alles technisch möglich? Ja, aber das würde 30 oder 40 Jahre dauern, bis es Gestalt annimmt, wie das Podium betonte.
Zum jetzigen Zeitpunkt reicht ein einziges Beispiel für die bevorstehenden Herausforderungen aus. Die Idee, einen Währungskorb für ein alternatives Zahlungssystem zu entwickeln, kam auf dem BRICS-Gipfel wegen der Position Indiens nicht zur Sprache.
Alexander Babakow, stellvertretender Vorsitzender der Duma, erinnerte an die Gespräche zwischen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) und dem Iran über die Finanzierung des Handels in Landeswährungen, einschließlich eines Fahrplans zur Suche nach den besten Wegen in der Gesetzgebung, um Investitionen anzuziehen. Das wird auch mit Privatunternehmen diskutiert. Vorbild ist der Erfolg des chinesisch-russischen Handelsumsatzes.
Andrei Klepatsch, Chefvolkswirt der VEB, witzelte, die beste Währung sei "flüssig und stabil. Wie Wodka." So weit sind wir also noch nicht. Zwei Drittel des Handels werden immer noch in Dollar und Euro abgewickelt ‒ der chinesische Yuan macht nur 3 Prozent aus. Indien weigert sich, den Yuan zu verwenden. Und es besteht ein riesiges Ungleichgewicht zwischen Russland und Indien: 40 Milliarden Rupien liegen auf den Konten russischer Exporteure und können nirgendwo hinfließen. Eine Priorität ist die Stärkung des Vertrauens in den Rubel: Er sollte sowohl von Indien als auch von China akzeptiert werden. Und ein digitaler Rubel wird zu einer Notwendigkeit.
Wang Wen pflichtete dem bei und sagte, es gebe nicht genug Ehrgeiz. Indien sollte mehr nach Russland exportieren und Russland sollte mehr in Indien investieren.
Wie Sohail Khan, der stellvertretende Generalsekretär der SOZ, betonte, kontrolliert Indien inzwischen nicht weniger als 40 Prozent des weltweiten digitalen Zahlungsmarktes. Noch vor sieben Jahren lag der Anteil bei null. Das erklärt den Erfolg seines einheitlichen Zahlungssystems (UPI).
In einem BRICS-EAWU-Gremium wurde die Hoffnung geäußert, dass im nächsten Jahr ein gemeinsamer Gipfel dieser beiden wichtigen multilateralen Organisationen stattfinden wird. Einmal mehr geht es um die transeurasischen Verkehrskorridore, denn bald werden zwei Drittel des weltweiten Umsatzes über die Ostroute zwischen Russland und Asien abgewickelt.
Was BRICS-EAWU-SOZ betrifft, so sind führende russische Unternehmen bereits in die BRICS-Geschäfte integriert, von der russischen Eisenbahn und Rostec bis hin zu großen Banken. Ein großes Problem bleibt, wie man Indien die EAWU erklären kann ‒ auch wenn die EAWU-Struktur als Erfolg gewertet wird. Und man darf gespannt sein: Ein Freihandelsabkommen mit dem Iran steht kurz vor der Unterzeichnung.
Bei der letzten Podiumsdiskussion in Wladiwostok wies die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa ‒ das moderne Gegenstück zu Hermes, dem Götterboten ‒ darauf hin, wie die G20- und BRICS-Gipfel die Bühne für Putins Rede auf dem Östlichen Wirtschaftsforum bereiteten.
Das erforderte "fantastische strategische Geduld". Schließlich habe Russland "nie eine Isolation unterstützt" und sei "immer für Partnerschaft eingetreten". Die hektische Betriebsamkeit in Wladiwostok hat gerade gezeigt, dass es beim "Pivot to Asia" um verbesserte Konnektivität und Partnerschaft in einer neuen polyzentrischen Ära geht.
Aus dem Englischen
Pepe Escobar ist Kolumnist bei The Cradle, leitender Redakteur bei Asia Times und unabhängiger geopolitischer Analyst mit Schwerpunkt Eurasien. Seit Mitte der 1980er Jahre hat er als Auslandskorrespondent in London, Paris, Mailand, Los Angeles, Singapur und Bangkok gelebt und gearbeitet.
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