eine Analyse von Seyed Alireza Mousavi
Nach einem ungewöhnlichen und spektakulären Misstrauensvotum gegen Imran Khan wurde am Montag der pakistanische Oppositionsführer Shehbaz Sharif mit 174 von 374 Stimmen zum neuen Premierminister gewählt. Khans Regierungspartei Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI) hatte vor der Abstimmung einen massenhaften Rücktritt aus dem Parlament verkündet. Die Abgeordneten von Khans Partei hatten die Sitzung zur Abstimmung boykottiert und ihren Austritt aus der Nationalversammlung erklärt. Mit der Amtsenthebung des ehemaligen Kricketstars Khan kam erstmals in Pakistan ein Premierminister durch ein Misstrauensvotum zu Fall. In der Nacht der Abstimmung am Montag hatten landesweit Zehntausende Menschen gegen die Amtsenthebung des ehemaligen Premiers Khan protestiert.
Khan war 2018 als Außenseiter in dieses System gekommen. Mit Sharif übernehmen die alten und korrupten Parteienblöcke wieder die Regierung. Die Oppositionsparteien Pakistanische Volkspartei (PPP) und Pakistan Muslim League (PML-N) begruben kürzlich ihre alte Feindschaft vorübergehend, um Khan zu stürzen. Es gelang ihnen nicht nur, Khans wichtigsten Koalitionspartner auf ihre Seite zu ziehen, sondern auch, zahlreiche Abgeordnete aus Khans PTI davon zu überzeugen, für einen Misstrauensantrag gegen ihre Regierung zu stimmen. Sharif ist der jüngere Bruder von Nawaz Sharif, der bereits dreimal als Premier an der Macht gewesen war, zuletzt aber über Korruptionsvorwürfe fiel und im Exil in London lebt. Tatsache ist, dass die beiden Lager in der neuen Regierung sich aus taktischem Grunde zusammentaten, um auf Khans Sturz hinzuarbeiten – obwohl sie politisch Rivalen sind. Khan ist weder Teil der PML-N um die Sharifs, noch gehört er zur PPP um die Bhuttos.
Der Mainstream im Westen startete in den letzten Tagen eine Kampagne gegen Khan, bei der sich Meinungsmacher auf einmal für die wirtschaftliche Lage in Pakistan im Zuge der COVID-19-Pandemie interessierten. Khan sei nicht in der Lage gewesen, die sich immer weiter zuspitzende Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen, deswegen hat er nach Darstellung der westlichen Medien die Amtsenthebung verdient. Die "Wirtschaftskrise" in Pakistan wurde aber dabei nur vorgeschoben, um vom Hauptkonflikt in Pakistan abzulenken. Pakistan steht nämlich am Scheideweg zwischen einem prowestlichen militaristischen System und einer gen Ost orientieren Staatsordnung.
In Pakistan zieht das Militär längst im Hintergrund die Fäden. Ohne grünes Licht vom Militär wären die pakistanischen Oppositionsführer nicht in der Lage gewesen, Khan zu stürzen. Seit der Geburtsstunde Pakistans vor etwa 75 Jahren lenkt die Armee das Land, das sich nach dem Abzug der britischen Kolonialmacht von Indien abgetrennt hatte. Armeechef Qamar Javed Bajwa und Imran Khan hatten sich in letzter Zeit Berichten zufolge entzweit. Der Armeechef möchte die Beziehungen zu den USA beibehalten und ausbauen, da er westliche Ausrüstung und Ausbildung bevorzugt. Die USA trauten Khan zudem nicht, weil er den Taliban zugeneigt ist und sich geweigert hatte, für die US-Amerikaner auf pakistanischem Boden Krieg zu führen.
Der Ukraine-Konflikt legte allerdings die inneren Spaltungen in Pakistan offen. Khan fiel in letzter Zeit insbesondere deshalb in Ungnade, weil er den russischen Präsidenten Wladimir Putin in Moskau getroffen hatte: Genau an dem Tag, an dem der Kreml seine Militäroperation in der Ukraine gestartet hatte, war der pakistanische Regierungschef in Moskau gelandet. Khans Treffen in Moskau war eine Sensation, da sein Besuch in Russland der erste eines pakistanischen Premierministers seit 23 Jahren war. Die US-Amerikaner hatten ihn seinerzeit auch wissen lassen, dass er eine rote Linie überschritten habe.
Pakistan orientierte sich unter der Khan-Regierung längst gen Osten. Während das Land seit 2018 dabei ist, von den US-Ambitionen in der Region Abstand zu nehmen, wird die strategische Partnerschaft zwischen Islamabad und Peking von Washington misstrauisch beäugt. Die Wahl Sharifs zum neuen Premierminister kommentierte auch die Friedrich-Ebert-Stiftung in Islamabad mit den Worten, dass die USA und die EU wichtige Handelspartner seien, auf die Pakistan in seiner wirtschaftlichen Krise nicht verzichten könne: "Sharif muss die Beziehungen zum Westen verbessern, ohne China und neuerdings auch Moskau zu verärgern. Das wird ein Drahtseilakt", kommentiert die Stiftung weiter.
Die Kritik am Einfluss ausländischer Mächte und internationaler Institutionen war ein wesentlicher Teil von Khans Kampagne, die ihn 2018 in die Regierung brachte. Der ehemalige Premierminister erklärte auch in den letzten Tagen mehrfach, die USA hätten das Misstrauensvotum gegen ihn im Parlament organisiert. Khan mobilisierte am Wochenende Zehntausende Anhänger für Massenproteste in mehreren großen Städten. Nach seiner Amtsenthebung befeuerte er auch Proteste mit dem Vorwurf, das Land bekomme nun eine "importierte Regierung".
Die jüngsten Entwicklungen in Pakistan sind zweifellos Nachwirkungen des Ukraine-Konfliktes. Bei seinem Besuch in Moskau besprachen Khan und Putin den Baubeginn der Pakistan Stream, einer Pipeline, die Flüssigerdgas (LNG) von Karachi nach Punjab transportieren soll. Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem der Westen versucht, ein Ölembargo gegen Russland zu verhängen. Nachdem bedeutende nicht-westliche Staaten sich nicht dazu bereit erklärt hatten, dem Westen bei der Isolation Russlands zu folgen, setzten die USA alles daran, Pakistan in der Region auf "Line zu bringen", um das Gleichgewicht zwischen Russland und dem Westen im Nahen Osten wiederherzustellen. Khan gibt aber noch nicht auf und will so schnell wie möglich zurück an die Macht. Er konzentrierte unter anderem auch schon seine ganze Kraft auf die Straße. Auf Pakistan warten turbulente Zeiten, die die neue Architektur Asiens gestalten werden.
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