Der ehemalige afghanische Präsident Hamid Karzai hat erklärt, dass die Taliban Kabul im August dieses Jahres nicht mit Gewalt eingenommen hätten, sondern in die afghanische Hauptstadt eingeladen worden seien. Nach eigenen Angaben habe er diese Einladung selbst ausgesprochen.
Dieser Schritt sei die einzige Möglichkeit gewesen, um die Bevölkerung zu schützen und zu verhindern, dass das Land im Chaos versinkt und "unerwünschte Elemente" Plünderungen begehen, betonte Karzai in einem Interview mit AP am 15. Dezember.
Der 63-Jährige, der zwischen 2001 und 2014 afghanischer Präsident war, ist nach wie vor eine sehr einflussreiche Figur im Land.
Im August, nachdem die Taliban innerhalb weniger Wochen durch Afghanistan gefegt waren und sich Kabul näherten, wobei sie den Abzug der US-Streitkräfte nach zwei Jahrzehnten Präsenz im Land ausnutzten, beteiligte sich Karzai an den Verhandlungen über eine friedliche Lösung des Konfliktes in Form einer Aufteilung der Macht zwischen der radikalen Taliban und der Regierung von Aschraf Ghani.
Er betonte, dass am 14. August ein Friedensabkommen in Aussicht gestanden habe. Präsident Ghani habe sich bereit erklärt, am nächsten Tag in die katarische Hauptstadt Doha zu reisen, um sich dort mit Vertretern der Taliban zu treffen.
Am 15. August seien die Spannungen in Kabul sehr groß gewesen, da die Bevölkerung eine Erstürmung der Hauptstadt befürchtete. Karzai erklärte, die Taliban hätten ihn am Morgen angerufen und ihm mitgeteilt, dass "die Regierung auf ihren Positionen bleiben und sich nicht bewegen solle, da sie nicht die Absicht hätten, in die Stadt einzudringen."
Regierungsvertreter hätten ihm dann auch versichert, dass das Militär die Stadt verteidigen wolle und dass "Kabul nicht fallen werde", fügte er hinzu.
Die Situation habe sich jedoch drastisch geändert, als gegen 14:45 Uhr klar wurde, dass Ghani und seine führenden Kabinettsmitglieder aus Kabul geflohen waren, so Karzai.
Ghani, dem vorgeworfen wird, bei seiner Flucht große Mengen an Bargeld erbeutet zu haben, hält sich derzeit in den Vereinigten Arabischen Emiraten auf.
Karzai erklärte:
"Es war kein einziger Beamter in der Hauptstadt anwesend, kein Polizeichef, kein Korpskommandeur, keine anderen Einheiten. Sie waren alle weg."
Die Taliban hätten Karzai als ehemaligem Präsidenten angeboten, in den Palast zu kommen und selbst die Rolle des Präsidenten zu übernehmen. Allerdings habe er abgelehnt, da es seiner Ansicht nach dafür keine rechtliche Grundlage gegeben habe.
Stattdessen entschied sich der ehemalige Präsident, eine Fernsehansprache von seinem Anwesen in Kabul aus zu halten, mit seinen Kindern an seiner Seite, "damit das afghanische Volk weiß, dass wir alle hier sind."
Ohne Ghanis überstürzten Schritt wäre das Friedensabkommen "auf jeden Fall" unterzeichnet worden, betonte der afghanische Politikveteran.
"Ich glaube, dass die Taliban-Führer in Doha ebenfalls auf uns gewartet haben, mit dem gleichen Ziel, mit dem gleichen Zweck."
Doch nun haben die Taliban allein das Sagen in Afghanistan. Karzai erklärte, er habe sich in den letzten vier Monaten regelmäßig mit Vertretern der Miliz getroffen.
Als er gebeten wurde, die Taliban zu beschreiben, sagte er, sie seien "Afghanen, aber Afghanen, die eine sehr schwierige Zeit in ihrem Leben durchgemacht haben, wie alle anderen Afghanen in den letzten 40 Jahren auch."
Der Ex-Präsident rief die internationale Gemeinschaft auf, sich mit der neuen Regierung auseinanderzusetzen, damit die Probleme Afghanistans gelöst werden könnten. Karzai drängte zudem auf Einigkeit innerhalb des Landes.