Aussichten auf eine Stabilisierung Afghanistans scheinen äußerst vage, da die Taliban weder über Managementerfahrung noch über geeignetes Personal verfügen, um das Land zu führen. Die Gefahr eines erneuten Bürgerkriegs scheint daher ziemlich real zu sein, erklärte Masato Toriya, Japans führender Experte für Zentralasien und Forscher an der Universität für Auslandsstudien in Tokio am Dienstag der Nachrichtenagentur TASS. Er merkte an:
"Es gibt praktisch keine personellen Ressourcen, die in der Lage wären, mit den gegenwärtigen Umständen wirklich umzugehen. Selbst wenn sich mit Hilfe der Nachbarstaaten gewisse Aussichten auf eine sozioökonomische Stabilisierung ergeben sollten, wäre das Erreichen dieses Ziels aufgrund der Erschöpfung des Landes durch vier Jahrzehnte Krieg eine unglaubliche Herausforderung. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen lässt sich nur schwer aufhalten, was zu einem Anstieg der Unzufriedenheit führen wird, wodurch es wahrscheinlich zu einer internen Spaltung der Taliban kommen wird."
"Die Aussicht auf ein erneutes Abgleiten Afghanistans in einen Bürgerkrieg ist nicht von der Hand zu weisen. Unter diesen Bedingungen ist die schnellste und vielfältigste Hilfe, die nicht nur von den Nachbarstaaten, sondern auch von den USA, der EU, Japan und Russland geleistet wird, der Schlüssel zur sozioökonomischen Stabilisierung des Landes."
Bedrohung für die Nachbarstaaten
Nach Ansicht des japanischen Zentralasien-Experten ist es jedoch unwahrscheinlich, dass die USA und die EU die Taliban anerkennen und Afghanistan wirtschaftliche Unterstützung gewähren, da sie der Meinung sind, dass die Miliz die Rechte von Frauen und Minderheiten verletzen und demokratische Werte mit Füßen treten. In Bezug auf die Situation mit den Nachbarländern stellte Toriya fest:
"Die Nachbarländer sind eine weitere Sache. Pakistan, Iran, die ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens sowie China droht ein Zustrom von Flüchtlingen und die Ausbreitung des Terrorismus, wenn sich die Lage in Afghanistan weiter destabilisiert."
"Es ist unklar, ob sie die Autorität der Taliban staatlich anerkennen werden, aber es scheint wahrscheinlich, dass sie sowohl Soforthilfe als auch längerfristige Unterstützung leisten werden, um eine Verschlechterung der Situation zu vermeiden."
Toriya erwähnte auch die Kontakte, die bereits von Vertretern Chinas und anderer Nachbarländer Afghanistans geknüpft wurden, um die Politik gegenüber den Taliban zu koordinieren.
Nachdem die USA im Frühjahr ihren beabsichtigten Truppenabzug angekündet hatten, starteten die Taliban eine groß angelegte Offensive, um die Kontrolle über Afghanistan wiederzuerlangen. Am 15. August drang die Miliz ohne auf Widerstand zu stoßen in die Hauptstadt Kabul ein, während der afghanische Präsident Ashraf Ghani aus dem Land floh. Anfang September hatten die US-Truppen Afghanistan vollständig verlassen und damit ihre fast 20-jährige Präsenz dort beendet.
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