Das gemeinsame Online-Seminar der Deutschen Atlantischen Gesellschaft e.V. mit der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. und dem Analytischen Zentrum CASSIS von der Universität Bonn sollte eine Bilanz aus dem Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan ziehen – "mit Licht und Schatten", wie es hieß. Unter den eingeladenen Experten gaben vor allem der Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr (von 2009 bis 2013) Generalleutnant a.D. Rainer L. Glatz und der Arzt und Berater des afghanischen Hochschulministeriums Dr. Yahya Wardak den Ton an.
Die deutschen Streitkräfte seien in Afghanistan "während ihrer ersten Offensive seit dem zweiten Weltkrieg" an der Seite ihrer engsten Verbündeten erwachsen geworden, lobten die Veranstalter im Einführungstext und richteten zugleich Fragen an die Teilnehmer:
Wie konnte das Wiedererstarken der Taliban so lange unterschätzt werden? Wie ist die Bundeswehr durch den schwierigsten Einsatz seit ihrer Gründung geprägt worden? Hat sich der vernetzte Ansatz am Hindukusch bewährt?
Der Nahost- und Afghanistan-Experte Bastian Matteo Scianna rief dazu auf, dem Karussell der Empörung über das angebliche Afghanistan-Desaster ein Ende zu setzen. Es sei eben kein zweites Vietnam gewesen. Er verwies dabei auf die Erfolge beim Kampf gegen das Analphabetentum und im Gesundheitswesen. In dem Land sei eine neue, modern denkende Generation aufgewachsen, betonte er. Den Vergleich mit einer "Offensive im Zweiten Weltkrieg" fand er nach dem Hinweis des Fragestellers von RT DE "unglücklich".
In seiner Bewertung war er sichtlich geneigt, das Problematischste in erster Linie in der afghanischen Korruption zu suchen. Die Ausbildung einer Armee in derartiger Zahlenstärke sei ein Fehler gewesen. Sie habe eher der Kontrolle der internen Bevölkerung und als Feuerwehrtruppe für die Regierung des Ex-Präsidenten Ghani gedient. Den Zusammenbruch der afghanischen Armee hat er mit der Niederlage der von den USA aufgebauten irakischen Armee angesichts des IS im Jahr 2014 verglichen.
"Das passiert, wenn wir uns mit westlichen Vorstellungen und unseren bürokratischen Strukturen in solche Länder begeben."
Generalleutnant a.D. Rainer L. Glatz, der mehrere Jahre die Streitkräfte der Bundeswehr in Afghanistan befehligte, sah den deutschen Einsatz als nur einen unter vielen. Dies sei der größte Einsatz der Vereinten Nationen in ihrer Geschichte gewesen, betonte er, denn daran wären 85 Nationen und 50 internationale Organisationen beteiligt gewesen.
Dennoch wären politische Fehler begangen worden – angefangen von den verfrühten Abzugsplänen der Obama-Regierung. Er verwies auf die guten Zustimmungswerte der Regierung in Kabul in den Jahren 2010/2011 unter der afghanischen Bevölkerung. "Und dann kam die Abwärtsspirale." Die Fortschritte in Afghanistan seien zu diesem Moment nicht nachhaltig genug gewesen.
Er erinnerte auch an den zuvor begangenen Fehler der ersten Regierung von Karzai im Jahr 2007, nämlich die Amnestie für Warlords zu erlassen. Die Straffreiheit für die Warlords sei der größte Sündenfall gewesen, so Glatz. "Das ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer [der Kriegsverbrechen] – und der internationalen Unterstützer der Karzai-Regierung", schrieb damals die deutsche Presse zu der Entscheidung.
Er wies auf sehr hohe Verluste der afghanischen Streitkräfte in den Kämpfen gegen die Taliban in den letzten acht Jahren hin – bis zu tausend Kämpfer pro Monat. "Welche westliche Armee wäre unter so hohen Todeszahlen durchhaltefähig gewesen?" Als die Unterstützung der westlichen Verbündeten wegbrach und die Führungsspitze der Armee von den Taliban "weggekauft" worden sei, war auch der Widerstand zu Ende.
Der Generalleutnant zeigte sich skeptisch, dass Afghanistan in der absehbaren Zukunft zu Ruhe und Stabilität finden könne. Es seien insgesamt bis zu 20 Terrororganisationen in Afghanistan gelistet worden. Die Erfolge der Taliban könnten der terroristischen Szene einen Schub geben, weiter Terror zu betreiben.
General a.D. Egon Ramms von der Deutschen Atlantische Gesellschaft e.V. wies daraufhin, dass die Taliban schon seit Langem Schattenstrukturen in Städten und Dörfern für den Tag X aufgebaut hatten. Es sei erwiesen, dass die Taliban seit Mai 2020 den Provinzgouverneuren Angebote unterbreitet hätten – darunter auch denjenigen, die sich zuvor als Kämpfer gegen die Taliban gezeigt hätten. "Warum hat die Politik nicht aufgenommen, dass die Taliban auf der Rundreise waren?", fragte er.
Es habe schon frühzeitig Berichte an die Bundesregierung gegeben, und die hätte NATO-Leute informiert. "Warum musste aber das schlimmste aller Szenarien eintreten? Das macht nachdenklich." Das Zurücklassen der Kameraden (der Ortskräfte) sei für die Bundeswehrsoldaten bedrückend gewesen, ergänzte ihn Generalleutnant Glatz.
Einer der Berichterstatter über die Lage im Land war der afghanische Arzt und Berater der Regierung in Kabul Dr. Yahya Wardak. In der Bewertung der Situation nahm er in der Diskussion kein Blatt vor dem Mund, indem er rhetorisch fragte:
"Sowohl die politische als auch die militärische Strategie der USA, der NATO und damit auch der Bundeswehr ist in Afghanistan gescheitert. Das habe ich vor vielen Jahren auch schon gesagt. Wofür sind Hunderttausende Menschen ums Leben gekommen? Wozu unsere Milliarden Steuergelder ausgegeben worden? Welchen Sinn und welchen Nutzen hat dieser Einsatz den Menschen und der Bevölkerung in Afghanistan gebracht?"
Als langjähriger Vorsitzender des "Afghanistan Information Center" Afghanic e.V. engagiert sich der in Bonn ansässige Arzt und gesellschaftlicher Aktivist für sein Heimatland. Experten, die die afghanische Armee und Regierung für das Vorrücken der Taliban verantwortlich machen, widersprach er.
Wenn schon die "beste Armee der Welt" zusammen mit der NATO und einer Allianz aus 46 Ländern die Taliban nicht besiegen könnten, dann sei es auch nicht zu erwarten, dass dies die afghanische Armee allein machen kann. "Das war schon lange ein verlorener Krieg", betonte er. Es seien die USA gewesen, die Afghanistan den Taliban bereits mit dem Doha-Abkommen Anfang 2020 überlassen hatten.
In einem anderen Redebeitrag wies der Ex-Regierungsberater darauf hin, dass die USA noch vor vierzig Jahren Tausende arabische Kämpfer und Hundertausende Mudschahedin und darunter sogar den späteren Top-Terroristen Osama Bin Laden mit Milliarden von Dollar unterstützt hatten. "Sie standen auf der CIA-Gehaltsliste."
"Später haben sie sich verselbstständigt", sagte Wardak. "Es ist wichtig, diesen Teil der Geschichte nicht zu vergessen, wenn man über Terroristen spricht."
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