Der russische Außenminister Sergei Lawrow hat in einem Interview erklärt, dass trotz der Versuche des US-Präsidenten Joe Biden, den Rückzug aus Afghanistan als Ergebnis der Erfüllung der Mission Washingtons in diesem Land darzustellen, jeder das Scheitern der US-Mission in Afghanistan verstehe. Er fügte hinzu, dass sogar die Menschen in den USA dies so sehen würden.
Der Minister wies darauf hin, dass Terrororganisation wie der sogenannte Islamische Staat und Al-Qaida ihre Positionen gestärkt hätten und dass die Drogenproduktion und der Drogenhandel in Afghanistan auf einem Allzeithoch seien. Er erklärte, dass etwa 90 Prozent des weltweiten Angebots an Heroin aus Afghanistan stammt. Die Produktion von Drogen gilt als eine der Haupteinnahmequellen der Taliban und anderer islamistischer Gruppen in Afghanistan.
Der Außenminister ging zudem auf die Pläne der USA ein, einen Teil ihrer militärischen Ressourcen aus Afghanistan in benachbarte Länder zu verlagern. Lawrow wies darauf hin, dass auch diese Pläne offenbar gescheitert seien. Lawrow sagte:
"Zunächst einmal haben Pakistan und Usbekistan bereits offiziell verkündet, dass dies nicht in Frage kommt. Sie werden eine solche Infrastruktur nicht auf ihrem Territorium platzieren. (...) Keiner (der mit Russland verbündeten zentralasiatischen Staaten) hat seine Absicht angekündigt, sein Territorium, seine Bevölkerung einem solchen Risiko auszusetzen."
Trotz des US-Rückzugs aus dem Land ist Moskau bereit, die Zusammenarbeit mit Washington und Peking sowie mit anderen Staaten fortzusetzen, die in der Lage sind, die Situation in Afghanistan zu beeinflussen. Der Minister teilte mit, dass sich Iran und Indien in Zukunft einem sogenannten "Troika-Format" zu Afghanistan anschließen könnten.
Lawrow betonte, dass Russland kein Interesse daran habe, dass in Afghanistan ein Chaos ausbreche, nicht nur, weil es auf die Nachbarländer übergreifen könnte, sondern auch, weil es dem afghanischen Volk alles Gute wünsche. Der Minister fügte hinzu, dass, um Frieden im Land zu erreichen, alle Parteien am Verhandlungstisch sitzen müssen, einschließlich der Taliban, die kürzlich Moskau besuchten, um die Situation in Afghanistan nach dem US-Abzug zu besprechen. Lawrow erklärte:
"Wir arbeiten jetzt nicht daran, dass eine Kraft in Afghanistan eine andere überwältigt, denn das wird eine sehr instabile, fragile und vorübergehende Lösung sein. (…) Alle unsere Bemühungen zielen darauf ab, einen Dialog zu gewährleisten, der schließlich zu einer politischen Lösung führen soll und alle politischen, ethnischen und anderen Gruppen in Afghanistan einschließt."
Am Freitag warnte der russische Spitzendiplomat zudem vor dem Risiko einer Destabilisierung von Afghanistans Nachbarländern angesichts des sich dort zuspitzenden Bürgerkrieges.
Auf einer regionalen Sicherheitskonferenz erklärte er, dass "die Ungewissheit über die Entwicklung der militärisch-politischen Situation in diesem Land und in seiner Umgebung zugenommen“ habe und fügte hinzu:
"Leider haben wir in den letzten Tagen eine rapide Verschlechterung der Situation in Afghanistan erlebt (...) Es ist offensichtlich, dass unter den gegenwärtigen Bedingungen reale Risiken eines Übergreifens der Instabilität auf die Nachbarstaaten bestehen. Die Gefahr eines solchen Szenarios ist ein ernsthaftes Hindernis für die Einbeziehung Afghanistans in die regionale Zusammenarbeit."
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