Trotz der am 10. Oktober vereinbarten Waffenruhe werfen die verfeindeten Ex-Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan einander andauernde Angriffe in der südkaukasischen Region Bergkarabach vor. Vor dem Hintergrund des vor gut zwei Wochen eskalierten jahrzehntelangen Konfliktes hat der Fernsehsender RT mit dem armenischen Präsidenten Armen Sarkissjan gesprochen.
In dem Exklusivinterview wurden mehrere Themen angesprochen: von der Situation vor Ort über die Rolle Russlands und der internationalen Gemeinschaft bei der Beilegung des Konflikts bis hin zur Anerkennung Bergkarabachs als unabhängigen Staat. Außerdem bedankte sich Sarkissjan bei dem russischen Auslandssender für seine unvoreingenommene, unabhängige und vertrauenswürdige Berichterstattung.
Allem voran bedauerte der armenische Präsident, dass der Waffenstillstand bislang nicht ganz befolgt werde, denn das bedeute Bombardements, Angriffe und Tod für noch mehr Menschen an der Front und unter der Zivilbevölkerung. Gleichzeitig gab Sarkissjan zu, dass es auch Verstöße seitens Armeniens gebe. Dies geschehe aber als Antwort auf die Verletzung der Vereinbarung durch die Gegenseite.
Ich glaube, dass alle Seiten viele Bemühungen machen müssen, um das zu stoppen. Und natürlich ist ein Verifizierungsmechanismus äußerst wichtig, um festzustellen, wer gegen den Waffenstillstand verstößt.
Sarkissjan wies darauf hin, dass es vor der Verkündung des Waffenstillstandes groß angelegte Kampfhandlungen gegeben hätte. Seitdem werde der vor gut zwei Wochen ausgebrochene Krieg teilweise weitergeführt. Den Beginn der Eskalation schilderte der armenische Staatschef so:
Am 27. September beschloss Aserbaidschan, dass es an keiner Fortsetzung der Gespräche im Format der Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mehr interessiert ist. Aus welchem Grund auch immer beschloss man in Baku faktisch, sich um 30 Jahre in die Vergangenheit zurückzuversetzen, als der erste Karabachkrieg ausgebrochen war, und wieder zu versuchen, das Problem militärisch zu lösen.
Sarkissjan zeigte sich in dem exklusiven Interview mit RT sicher, dass eine militärische Lösung des Konflikts schlichtweg unmöglich sei. Denn es gehe in erster Linie nicht um die zahlenmäßige Überlegenheit an Militärgerät, sondern um das Vertrauen.
Die Aserbaidschanische Sowjetische Sozialistische Republik bekam Bergkarabach vom Genossen Stalin geschenkt. Für 65 Jahre. Aber selbst im Laufe dieser 65 Jahre verfügte Bergkarabach über eine Autonomie bei der absoluten Mehrheit der armenischen Bevölkerung. Nun kommen wir zur wichtigsten Frage: Warum brachte Aserbaidschan während dieser 65 Jahre, als es Bergkarabach sozusagen verwaltete (wir waren ja alle Teil eines großen Staates oder Imperiums – der Sowjetunion) und unter der Aufsicht der sowjetischen Führung es nicht fertig, das Vertrauen des Volkes in Bergkarabach zu gewinnen?
Der armenische Staatschef teilte mit, dass Aserbaidschan selbst während der Sowjetzeit alles getan habe, um Armenier aus Bergkarabach zu verdrängen, indem es unter anderem armenische Schulen geschlossen habe. Das sei einer der Gründe gewesen, warum sich die armenische Bevölkerung Bergkarabachs im Jahr 1991 bei einem "nach allen Regeln organisierten" Referendum für die Unabhängigkeit entschieden habe. Nach zwei Kriegen und zahlreichen Toten sei kein Vertrauen gegenüber Aserbaidschan möglich.
Sarkissjan äußerte die Meinung, dass der Krieg in Bergkarabach auch nach der Einstellung der Kampfhandlungen im Jahr 1994 nie endgültig vorbei war. Der armenische Präsident verglich die dortige Situation mit ethnischen Säuberungen. Für Aserbaidschaner bedeute ein Sieg in Bergkarabach ein Bergkarabach ohne Armenier. Der Politiker zog außerdem eine Parallele zum Völkermord an den Armeniern von vor 105 Jahren im Osmanischen Reich und kritisierte die Haltung der Türkei im Konflikt scharf.
Sarkissjan warf Ankara eine offene Einmischung vor, darunter die Entsendung islamistischer Kämpfer und Terroristen, und wies auf die Widersprüchlichkeit der türkischen Außenpolitik hin:
Die Türkei pocht auf die territoriale Integrität Aserbaidschans, passiert dabei aber die irakische Grenze. Sie pocht auf die territoriale Integrität Aserbaidschans und passiert dabei die syrische Grenze. Sie bemüht sich aktiv um eine Präsenz im Libanon und am Persischen Golf. Sie hat momentan große Probleme im östlichen Mittelmeerraum – und nun im Kaukasus!
Als Ziel seiner Regierung erklärte der armenische Staatschef die Beendigung des Krieges und die Rückkehr an den Verhandlungstisch. Das Problem könne nur durch einen menschlichen Dialog endgültig gelöst werden. Das Allerwichtigste sei jetzt aber die Einstellung der Kampfhandlungen. Der Verhandlungsprozess sei wichtig, um die entgegengesetzten Positionen zu einem gemeinsamen Nenner zu bringen. In den vergangenen 20 Jahren sei es gelungen, viele Meinungsverschiedenheiten zu lösen. Nun sei das alles zerstört.
Die Republik Bergkarabach und ihr Volk sehen keine andere Lösung, als dass Armenier frei und würdig auf ihrem heimatlichen Boden leben können. Für alle Armenier weltweit, sowohl in unserem Land als auch in der Diaspora, ist es wichtig, die Gefahr ethnischer Säuberungen und eines Völkermords zu verhindern.
Sarkissjan sprach von vielen Tausenden von Flüchtlingen aus Bergkarabach, die Armenien infolge der jüngsten Eskalation auf seinem Territorium beherbergt hatte. Nicht nur die armenischen Behörden, sondern auch Tausende von Freiwilligen würden diese nun versorgen.
Das armenische Staatsoberhaupt hob die Rolle der russischen Regierung bei der Beilegung des Konfliktes hervor. Er nannte Russland einen sicheren Partner, der auch sehr gute Beziehungen zu Aserbaidschan habe. Es sei wichtig, dass Moskau das Vertrauen beider Seiten genieße. Auf diese Weise übernehme Russland als Unterhändler eine große Verantwortung. Zugleich wies Sarkissjan Berichte zurück, wonach kurdische Kämpfer an dem Konflikt beteiligt seien:
Wir wollen nicht, dass sich irgendjemand in diese Situation einmischt. Wir wollen keine neuen Teilnehmer und keine weitere Verwicklung. Wir wollen nur eines – die Türkei aus dem Spiel halten. Wenn die Türkei ihre Hände nicht im Spiel hat, wird die Waffenruhe halten und sehr lange dauern.
Darüber hinaus erklärte Sarkissjan, warum Armenien die Republik Arzach bislang nicht als unabhängigen Staat anerkennt. Demnach möchte Jerewan den Friedensprozess nicht erschweren:
Indem wir Bergkarabach weder als unabhängigen Staat noch als Teil Armeniens anerkennen, lassen wir eine Verhandlungsmöglichkeit bestehen. Das ist sehr wichtig. Wenn der Krieg jetzt fortdauern wird und wenn die Verhandlungen nicht mehr denkbar sein werden, wird Armenien selbstverständlich keine andere Wahl haben, als die Unabhängigkeit Bergkarabachs anzuerkennen und seine Brüder zu unterstützen.
Trotzdem zeigte sich Sarkissjan zuversichtlich, dass es diesmal gelingen könnte, den Waffenstillstand durchzusetzen.
Nach den schwersten Kampfhandlungen seit Jahren in der Region Bergkarabach hatten sich Armenien und Aserbaidschan in der Nacht zum 10. Oktober unter der Vermittlung Russlands auf eine Waffenruhe geeinigt. Die Verhandlungen zwischen dem russischen Außenminister Lawrow und seinen Amtskollegen aus Armenien und Aserbaidschan, Sohrab Mnazakanjan und Dscheichun Bairamow, dauerten mehr als zehn Stunden. Danach teilte Lawrow mit, die Waffenruhe werde am 10. Oktober um 12 Uhr Ortszeit in Kraft treten und solle dazu genutzt werden, Kriegsgefangene und weitere inhaftierte Personen auszutauschen und die Leichen der Gefallenen in ihre Heimat zu überführen. Grundlegende Friedensverhandlungen solle es unter Führung der Minsk-Gruppe der OSZE geben.
Der Konflikt war ursprünglich im Februar 1988 ausgebrochen, als die Autonome Oblast Bergkarabach mit überwiegend armenischer Bevölkerung ihre Loslösung von Aserbaidschan angekündigt hatte. Im Laufe der bewaffneten Auseinandersetzungen, die von 1992 bis 1994 dauerten, verlor Baku die Kontrolle über Bergkarabach und sieben Anrainergebiete. Im Jahr 1994 unterzeichneten Aserbaidschan, Armenien und die Republik Bergkarabach unter Vermittlung der Russischen Föderation ein Protokoll über einen Waffenstillstand. Trotzdem kam es wiederholt zu Kampfhandlungen, zuletzt eskalierte der Konflikt am 27. September erneut. Armenien und Aserbaidschan geben einander hierfür die Verantwortung.
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