von Maria Müller
Boliviens De-facto-Übergangspräsidentin Jeanine Áñez lässt alle scheindemokratischen Hüllen fallen. Sie präsentierte sich vor kurzem der Öffentlichkeit als Präsidentschaftskandidatin für die Wahlen am 3. Mai. Ihr Schritt sorgt selbst im eigenen Lager für heftigen Widerspruch. Noch vor kurzem kritisierte sie das Zersplittern der neoliberalen Kräfte: sie stellten neun Kandidaten auf. Nun ist sie die Nummer zehn.
Starker Widerspruch in den eigenen Reihen
Carlos Mesa, Ex-Präsident Boliviens und gegenwärtiger Kandidat der politischen Rechten, sprach sich dagegen aus:
Eine Kandidatur der Präsidentin liquidiert die Glaubwürdigkeit des Übergangs. Damit werden die Behauptungen des geflohenen Präsidenten bestätigt, dass es in Bolivien einen Staatsstreich gab!
Und weiter:
Die Vermittler in dieser Krise, die katholische Kirche und die Europäische Union, gingen davon aus, dass es sich um eine verfassungsgemäße Vorgehensweise handele. (sic!)
Praktisch alle Gruppen und Parteien der zersplitterten Rechten kritisierten das Vorgehen der neuen Kandidatin, die bis zu ihrem autoritären Zugang zur Macht völlig unbekannt war. Das Ganze erinnert an den vor seiner Selbsternennung zum Interimspräsidenten bedeutungslosen Abgeordneten Juan Guaidó in Venezuela.
Áñez kündigte ihrem Kabinett das Vertrauen auf
Kurz nach Bekanntwerden der wahren Ambitionen von Áñez reichte ihre Ministerin für Kommunikation Roxana Lizárraga aus Protest den Rücktritt ein. Daraufhin kündigte Áñez am 27. Januar ihrem gesamten Kabinett das Vertrauen auf und warf die Leute raus. Eine Woche später vereidigte sie nun eine neue Ministerrunde, die widerspruchslos ihre Entscheidungen akzeptieren soll.
Zwei Abgeordnete der Partei des weggeputschten Präsidenten Evo Morales, Movimiento al Socialismo (MAS), haben die umstrittene Kandidatur bereits gerichtlich angefochten. Sie argumentieren, dass Áñez zurücktreten müsse:
Entweder Kandidatin oder Übergangspräsidentin. Beides zusammen geht nicht.
Außerdem sei im Falle ihrer Kandidatur das von ihr neu besetzte oberste Wahlgericht nicht neutral.
Die bolivianische Gewerkschaftszentrale COB stellte sich indessen sehr entschieden gegen die De-facto-Präsidentin und forderte ihren Rücktritt. Sie bezichtigte Áñez des "Verrats" am bolivianischen Volk. Die Gewerkschafter unterstützen Evo Morales, die MAS-Partei und ihren Kandidaten Luis Arce.
Auch der Präsident der Gewerkschaftsvereinigung der Bergleute Boliviens (FSTMB), Orlando Gutiérrez, forderte Jeanine Áñez zum Rücktritt auf, um sich ihrer Wahlkampagne zu widmen und die Doppelrolle aufzugeben.
Luis Arce als Kandidat der MAS-Partei in Gefahr
Die Bewegung für den Sozialismus (MAS) von Evo Morales hat sich vor einer Woche auf den Kandidaten für die kommenden Präsidentschaftswahlen geeinigt: den fähigen Ökonomen Luis Alberto Arce Catacora, der unter Morales das Amt des Wirtschaftsministers innehatte. Arce wurde international für die erfolgreichsten Entwicklungsleistungen in der Geschichte Boliviens anerkannt. Laut Umfrageergebnissen besitzt er die besten Chancen für einen Wahlsieg. Doch schon droht ihm eine ähnliche Justizfalle wie Lula da Silva bei dessen Kandidatur in Brasilien.
Nach 52 Tagen im Exil – an der Seite von Evo Morales – kehrte Luis Arce am vergangenen Mittwoch nach Bolivien zurück. Zuvor hatte die Putschregierung versichert, es bestehe kein Haftbefehl gegen ihn, er könne sich ohne Probleme dem Wahlkampf in Bolivien widmen.
In Bolivien gibt es keine politische Verfolgung", so der Regierungssprecher.
Politische Verfolgung mit Hilfe der Justiz
Doch kaum verließ Arce das Flugzeug, wurde ihm von einer Staatsanwältin eine Vorladung für den nächsten Tag übermittelt. Der Abgeordnete einer Oppositionspartei gegen Morales, Unidad Nacional, hatte kurz zuvor beantragt, einen seit 2015 laufenden Prozess zu erweitern und Arce kurzerhand mit einzubeziehen. Hintergrund ist das Verfahren um den "Indigenen-Fonds", das damals die Regierung Morales selbst in die Wege geleitet hatte. Es handelt sich um Misswirtschaft und Veruntreuung von 15 Millionen US-Dollar für soziale und landwirtschaftliche Projekte, für die auch Mitglieder der MAS-Partei angeklagt wurden und nun inhaftiert sind. Nun aber soll Arce als Wirtschaftsminister seine Kontrollaufgaben in Bezug auf den "Indigenen-Fonds" ungenügend erfüllt haben.
Wir müssen uns klarmachen, dass wir ständig mit solchen Einschüchterungsversuchen konfrontiert sein werden. Ich kann jederzeit verhaftet werden, sobald sich die Staatsanwältin nicht mehr an die Gesetze hält", sagte Arce gegenüber der Presse.
Er fügte hinzu:
Ich werde politisch verfolgt, man will meine Beteiligung am Wahlkampf verhindern.
So erschien Arce am Mittwoch vor der Staatsanwältin Heydi Gil in Begleitung von Vertretern der UNO-Menschenrechtskommission und des bolivianischen Büros für Bürgerrechte. Die Anklägerin gestand allerdings Verfahrensfehler ein und verschob die Anhörung auf unbestimmte Zeit, um den Beschuldigten die gegen ihn erhobenen Vorwürfe prüfen zu lassen.
Interpol verweigert Festnahme von Evo Morales
Während Ex-Präsident Evo Morales und mehrere Politiker seiner Regierung aus dem Exil ihre Kandidaturen für Senatoren- und Abgeordnetenposten beantragen, versucht die Putschregierung weitere Kriminalisierungen durchzusetzen. Der Generalstaatsanwalt Juan Lanchipa hatte bei Interpol die Festnahme von Morales nach der höchsten Dringlichkeitsstufe beantragt, allerdings ohne richterlichen Beschluss. Begründung: Er werde des Terrorismus und der Terrorfinanzierung verdächtigt sowie des Umsturzversuchs gegen die bestehende Ordnung.
Die Internationale Polizeiorganisation übermittelte am 29. Januar der Putschregierung, dass der Antrag zurückgewiesen wird und die Daten von Morales gelöscht werden. Grund: Artikel 3 der Interpol-Statuten verbietet es der Organisation, in Angelegenheiten mit politischem, militärischem, religiösem oder rassischem Hintergrund zu intervenieren.
Interpol hatte im Fall des früheren Präsidenten von Ecuador, Rafael Correa, genauso reagiert, als dessen Nachfolgeregierung ihn in Belgien festnehmen lassen wollte.
Wer ist Luis Arce Catacora, der Kandidat der MAS?
Arce ist 56 Jahre alt und wird als "Vater des bolivianischen Wirtschaftswunders" bezeichnet. Eine sozial und kommunal geprägte Marktwirtschaft, die vor allem durch das intelligente Management der reichen Rohstoffvorkommen gefördert wurde.
Arce absolvierte sein Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität von San Andrés und erwarb den Mastertitel in Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Warwick (1996-1997) in Großbritannien.
Der Ökonom begleitete Evo Morales während dessen gesamter Regierungszeit, zuerst als Finanzminister, dann als Wirtschaftsminister. Nach der Verstaatlichung der Erdöl- und Gasvorkommen im Jahr 2006 steigerte sich die Wachstumsrate Boliviens auf 4,9 Prozent und schwankt seitdem zwischen 6,8 und 4,4 Prozent jährlich. Aufgrund der politischen Konflikte und des Rückgangs der Gasexporte fiel die Rate Ende 2019 auf 3,13 Prozent.
Die extreme Armut fiel von fast 40 Prozent im Jahr 2005 auf 17,1 Prozent 2018. Bolivien investierte in großräumige Infrastrukturmaßnahmen, in die Modernisierung der Städte, in Bildung, Gesundheit und Sozialpolitik. Laut Weltbank gehört Bolivien zu jenen Staaten in Lateinamerika, in denen die Ungleichheit der Einkommen am stärksten reduziert wurde.
Internationale Wahlbeobachter haben sich für den 3. Mai angekündigt
Der von Jeanine Áñez eingesetzte Präsident des obersten Wahlgerichtes, Salvador Romero, gab am 30. Januar bekannt, dass bei den kommenden Präsidentschaftswahlen ein wahres Heer von Wahlbeobachtern anwesend sein wird. Angemeldet haben sich bereits die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die Europäische Union und regionale Beobachterorganisationen wie die Interamerikanische Union der Wahlorganismen (UNIORE). Des Weiteren würden kleinere lateinamerikanische Organisationen anwesend sein.
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