Chile: Verfassung aus Pinochet-Diktatur soll reformiert werden – Tausende von Bürgerversammlungen

Die Ablehnung gegenüber den traditionellen Parteien in Chile ist groß. Von einer Politikverdrossenheit kann aber keine Rede sein. Das zeigen die vielen Bürgerversammlungen zur Reformierung der bestehenden Verfassung, die noch aus der Zeit von Diktator Pinochet stammt.

von Maria Müller

Die unter der chilenischen Diktatur des berüchtigten Generals Augusto Pinochet geschriebene Verfassung wurde bisher nicht verändert. Sie sicherte die Privilegien der Eliten und begünstigte die tiefe soziale Ungleichheit. Nach dem Willen von 86 Prozent der Bevölkerung soll das nun anders werden. Am 15. November unterschrieben die meisten Regierungs- und Oppositionsparteien ein Abkommen, um einen verfassungsgebenden Prozess einzuleiten. Am 26. April wird eine Volksabstimmung darüber durchgeführt, ob und in welcher Form er stattfinden soll.

Unklar bleibt, ob damit die drängenden Fragen der Armutsrenten, der prekären Gesundheitsversorgung, des privatisierten Bildungssystems, der hohen Arbeitslosigkeit und der Billiglöhne gelöst werden. Teile der sozialen Bewegungen glauben das nicht.

Regierungspartei stimmt gegen Frauenparität

Indessen stimmte die rechte Regierungskoalition im Senat mit einer Stimme Mehrheit gegen eine paritätische Frauenquote in der Verfassungsversammlung und überging damit den Willen von 92 Prozent der Bevölkerung (Umfrage CADEM-Institut, 23.12.19).

"Wenn wir mitten im 21. Jahrhundert die Geschlechterparität in Frage stellen, nehmen wir die Zeit, in der wir leben, nicht zur Kenntnis. Wir haben ein großes kulturelles Problem, das wir überwinden müssen!", äußerte sich dazu Álvaro Elizalde, der Präsident der Sozialistischen Partei. Eine Kommission aus beiden Kammern wird nun eine Konsenslösung erarbeiten müssen.

Kein Wunder, dass Präsident Piñera heute von 81 Prozent der Chilenen abgelehnt wird, sein Kabinett von 78 Prozent. Unter diesen Bedingungen immer noch mit Verfahrenstricks im Parlament den Verfassungsprozess zu manipulieren zeigt, wie weit die formale Demokratie von der realen Demokratie entfernt ist.

Tausende von Bürgerversammlungen

Im Dezember hatte es in ganz Chile Tausende von Bürgerversammlungen gegeben, auf denen über die Verfassungsfrage diskutiert wurde. Das Ergebnis war ein breiter Konsens darüber, dass alle Teilnehmer des Grundgesetzforums, "Constituyente" genannt, zu wählen sind, genauso viele Frauen wie Männer daran teilnehmen sollen, die indigenen Völker repräsentiert sein müssen und dass parteilose Bürger genauso mitmachen können. Auch hier bestätigen Umfrageergebnisse die breite Popularität dieser Forderungen.

So wollen 89 Prozent der Bevölkerung die Teilnahmequote für indigene Völker. Interessant ist die Unterstützung für die Indigenen, trotz der Hetze in den Medien und seitens der Regierung, die sie als Terroristen verteufeln. Die Mapuche-Nation kämpft seit Jahrhunderten für die Anerkennung ihrer Landrechte und wurde von allen Regierungen, ob links oder rechts, verfolgt. Ihre Fahnen waren und sind auf den Demonstrationen der letzten Monate überall zu sehen.

Ein weiterer zentraler Anspruch der landesweiten Bürgertreffen ist das Recht, die Verfassung mitzugestalten, ohne Mitglied einer Partei zu sein. Immerhin stimmte der Senat in der besagten Sitzung vom 22. Januar für diese Forderung, gleichwohl mit einigen Veränderungen.

Parteien ohne Bürgervertrauen

Die Chilenen sind parteienmüde. Laut der Umfrage des Zentrums für Öffentliche Studien (CEP) besitzen die traditionellen Parteien nur noch zwei Prozent an Bürgervertrauen, während sich gleichzeitig 64 Prozent für die Demokratie aussprechen. Schlussfolgerung: Die Menschen wollen eine andere Form der Demokratie, sie fühlen sich von der politischen Klasse verraten. Doch rund ein Drittel hat auch kein Vertrauen mehr in die Demokratie. Was würde geschehen, wenn heute Wahlen in Chile wären?

Eine Partei der Unabhängigen nur für die Verfassungsgebung

Inzwischen haben die Unabhängigen aus der Protestbewegung ihren Weg für eine Beteiligung an der neuen Verfassung geebnet. Die "Bewegung für eine demokratische Verfassung" will ein Sammelbecken für sie sein und ihnen ermöglichen, in die "Constituyente" gewählt zu werden. Die Bewegung hat sich als Partei im Aufbauprozess registrieren lassen und will bis zur Volksabstimmung im April die 20.000 notwendigen Unterschriften für ihre formale Anerkennung erreichen.

Das Hauptziel besteht darin, unabhängigen Personen, die sich durch die gegenwärtigen Formen der repräsentativen Demokratie nicht interpretiert fühlen, eine politische Bühne anzubieten. Auch die indigenen Völker sollen hier ihre Plattform haben, also alle, die Kandidaten für die 'Constituyente' sein wollen", erklärte Raúl Zarzuri, der Präsident der Bewegung.

Und weiter: "Wir erfüllen damit die gesetzlichen Formalitäten. Nach der Beteiligung am Verfassungsprozess wird sich die Partei auflösen".

Die enormen Menschenrechtsverletzungen in Chile

Präsident Piñera versucht immer noch, mit rein taktischen Manövern die Protestbewegung ins Leere laufen zu lassen. Er machte anfänglich gewisse Zugeständnisse, so die Rücknahme der Fahrpreiserhöhung, um andere zentrale Forderungen wie die Verstaatlichung des Rentensystems unbeantwortet zu lassen. Sein Popularitätsabsturz hängt auch damit zusammen, dass die Masse der Chilenen ihn direkt für die Toten und Verletzten durch die Polizeigewalt verantwortlich machen.

Laut dem Bericht des chilenischen Menschenrechtsinstituts (INDH) vom 15. Januar 2020 hat die Repression bisher 29 Todesopfer gefordert, es gab 412 Fälle von Folter, 151 Fälle von sexuellen Aggressionen und Vergewaltigungen durch Polizeikräfte. Vor allem das Augen-Ausschießen als systematischer Terror gegen Demonstranten hat 405 Opfer gefordert, die heute auf einem oder auf beiden Augen blind sind. Bekannt wurde, dass die Polizei Gummigeschosse mit Bleibeimischung verwendet. Insgesamt wurden 3.649 Verletzte registriert, darunter 51 Schussverletzte. Bisher wurde ein einziger Polizist deswegen verurteilt.

Am vergangenen Freitag, just 100 Tage seit Beginn der Proteste, fanden wieder zwei große Demonstrationszüge in der Hauptstadt Santiago statt. Aufgerufen hatten Künstler und Kulturorganisationen sowie das Bündnis gegen das private Rentensystem, das schon seit Jahren Millionen Demonstranten mobilisiert. Auf Transparenten und mit Parolen wurde erneut der Rücktritt des Präsidenten Piñera gefordert – übrigens auch der stärkste Chor in den Fußballstadien.

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