Die Lage in Bolivien spitzt sich weiter zu. Allein am Freitag wurden in Cochabamba laut lokalen Medien neun Demonstranten von Sicherheitskräften getötet, als Tausende Anhänger des ins Ausland geflohenen Präsidenten Evo Morales versuchten, in die Innenstadt zu marschieren. Über hundert Menschen wurden demnach bei den Protesten verletzt. Die neue Regierung in La Paz bestätigte, dass am Freitag auch Militär gegen die Protestler eingesetzt wurde.
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Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte verurteilte die ihrer Ansicht nach unverhältnismäßige Gewalt gegenüber Demonstranten. Sie missbilligte zudem das am Freitag unterzeichnete Regierungsdekret, welches "Angehörige der bolivianischen Streitkräfte, die an den Operationen zur Wiederherstellung und Stabilität der inneren Ordnung teilgenommen haben", von strafrechtlichen Verfolgung befreit und sie dazu ermächtigt, "alle verfügbaren Mittel" zur Kontrolle der Demonstrationen einzusetzen.
Auch die UN-Kommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, warnt, dass die Situation in Bolivien "außer Kontrolle gerät".
Das Land ist gespalten und die Menschen auf beiden Seiten der politischen Kluft sind extrem wütend. In einer solchen Situation werden repressive Maßnahmen der Behörden diese Wut nur noch weiter schüren und wahrscheinlich jeden möglichen Weg zum Dialog gefährden", sagte die frühere chilenische Präsidentin.
Die "unnötige und nicht angemessene" Gewalt durch die Sicherheitskräfte sei "extrem gefährlich", so Bachelet.
Morales hatte am Sonntag vor einer Woche nach Drohungen des Militärs und gewalttätigen Übergriffen auf seine Familienangehörigen sowie andere Regierungsvertreter und deren Anhänger seinen Rücktritt erklärt. Der Sozialist spricht von einem Staatsstreich.
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Am Dienstag ernannte sich dann die konservative Oppositionspolitikerin Jeanine Áñez ohne parlamentarische Abstimmung selbst zur Interimspräsidentin. Washington erkannte sie daraufhin unverzüglich als neue Staatschefin an. Wie geleakte Audioaufnahmen belegen, waren US-Vertreter an der Ausarbeitung der Putschpläne beteiligt.
Morales, der in Mexiko politisches Asyl erhielt, beschrieb die jüngsten Ereignisse als "Massaker" und bezeichnete Áñez als Diktatorin. Sein ebenfalls zurückgetretener Vizepräsident Alvaro Garcia Linera warnte davor, dass die Angriffe auf Morales' Anhänger von Rassen- und Klassenhass angetrieben würden.
Hinter dem gestürzten Präsidenten stehen vor allem die Indigenen, die etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Mestizen, also Nachfahren von Europäern und Indigenen, stellen rund 30 Prozent der Bevölkerung. Die übrigen Bewohner des Andenlandes sind "Weiße".
Unter den drei Amtszeiten von Morales hat sich die Lage der indigenen Bevölkerung, die den Großteil der Armen stellt und bislang strukturell benachteiligt und diskriminiert wurde, erheblich verbessert. Morales' Gegner rekrutieren sich dagegen vor allem aus der weißen, urbanen Mittelschicht, die sich nach ihren alten Privilegien zurücksehnen.
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