Die Oppositionspolitikerin Jeanine Áñez hat sich ohne Abstimmung zur "Interimspräsidentin" Boliviens erklärt. Die Partei Movimiento al Socialismo (MAS) des gestürzten Präsidenten Evo Morales erklärte, der Senat habe kein Quorum und die Sitzung der Legislative sei nicht legal. MAS besitzt in beiden Kammern die absolute Mehrheit. Unter dem Beifall der oppositionellen Abgeordneten erklärte Áñez am Dienstag:
Durch die endgültige Abwesenheit des Präsidenten und Vizepräsidenten übernehme ich als Vorsitzende der Senatorenkammer, wie es in der verfassungsmäßigen Ordnung vorgesehen ist, sofort die Präsidentschaft.
Das Vorgehen von Áñez erinnert an das von Juan Guaidó in Venezuela, der sich im Januar mit Unterstützung der US-Regierung und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zum "Interimspräsidenten" erklärt hatte. Während Guaidó allerdings wiederholt mit Putschversuchen gegen Präsident Nicolás Maduro scheiterte, konnte die Opposition in Bolivien – ebenfalls unterstützt von den USA und der OAS – den Rücktritt Morales erzwingen, nachdem das Militär auf ihre Seite getreten war.
Während die Opposition behauptete, dass die Proklamierung Áñez' zum Staatsoberhaupt im Einklang mit der bolivianischen Verfassung stehe, bezeichneten MAS-Abgeordnete die Versammlung als illegal. Sie weigerten sich, an dem Verfahren teilzunehmen, weil, wie sie sagten, bewaffnete Gruppen der Opposition die Straßen kontrollierten und ihre Sicherheit nicht garantieren werden könne.
Morales' Partei hat im Parlament und im Senat die Mehrheit. Ohne die MAS-Abgeordneten sind beide Häuser nicht beschlussfähig. Vizepräsident Álvaro García Linera gab seinen Posten zusammen mit Morales am 10. November auf und ließ das Land damit in einem rechtlichen Schwebezustand. Die Anhänger der gestürzten Regierung bezeichneten die erzwungenen Rücktritte als Putsch und kündigten an, notfalls mit Gewalt Widerstand zu leisten.
Die USA priesen Morales' Sturz als einen "bedeutenden Moment für die Demokratie in der westlichen Hemisphäre" und beschuldigten den sozialistischen Präsidenten, den Willen des Volkes durch eine vierte Amtszeit zu untergraben – obwohl die bolivianischen Gerichte diese Amtszeit bestätigt hatten. Morales war einer der wenigen lateinamerikanischen Staatsmänner, die sich den USA beim Thema Venezuela widersetzt und Maduro unterstützt hatten.
Von seinem mexikanischen Asyl aus kritisierte Morales die Selbstproklamation Áñez' in scharfen Tönen. Auf Twitter schrieb er:
Der durchtriebenste und schändlichste Staatsstreich der Geschichte ist vollzogen. Eine Senatorin der putschenden Rechten hat sich selbst zur Senatspräsidentin und danach zur Interimspräsidentin Boliviens erklärt – ohne legislatives Quorum, umgeben von einer Gruppe von Komplizen und geführt von den Streitkräften und der Polizei, die das Volk unterdrücken.
Vor der internationalen Gemeinschaft verkünde ich, dass der Akt der Selbstproklamation einer Senatorin zur Präsidentin gegen die Verfassung Boliviens und die internen Regeln des Parlaments verstößt. Dieser Akt vollzieht sich mit dem Blut der Menschen, die von Polizei- und Streitkräften bei dem Putsch getötet wurden.
Die USA haben Áñez' Amtsübernahme bereits anerkannt. Der amtierende Staatssekretär im Außenamt Michael Kozak schrieb auf Twitter:
Die amtierende Senatspräsidentin Áñez hat das Amt des verfassungsgemäßen Interims-Präsidenten von Bolivien übernommen. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit ihr und den anderen zivilen Behörden Boliviens, wenn sie so bald wie möglich freie und faire Wahlen in Übereinstimmung mit der bolivianischen Verfassung organisieren.
Auch das Kommando der Streitkräfte Boliviens hat die selbsternannte Interimspräsidentin anerkannt und ihr die Unterstützung des Militärs zugesichert.
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