von Maria Müller
Am vergangenen Sonntag begann nach elf Tagen schwerer Auseinandersetzungen in dem südamerikanischen Land Ecuador die erste Verhandlungsrunde zwischen der Regierung und den Aufständischen. Präsident Lenín Moreno nahm persönlich daran teil, begleitet von Kabinettsmitgliedern.
Auf der anderen Seite waren die mächtige Indigenenorganisation Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors (CONAIE) mit ihrem Sprecher Jaime Vargas vertreten sowie weitere bedeutende Indianergruppierungen wie die FEINE und die FENOCIN. Das UN-Büro des Landes und die Bischofskonferenz nahmen eine Vermittlerrolle ein. Das Treffen wurde im staatlichen Fernsehen direkt übertragen.
Jaime Vargas (CONAIE) sagte zu Beginn der Gespräche:
Es liegt in Ihren Händen, Herr Präsident, Ecuador wieder aufzubauen. Wir tragen die Verantwortung für die Würde eines Landes. Man hat uns als legitime Fürsprecher anerkannt.
Vargas warnte davor, dass die Demonstranten weiterhin Widerstand leisten werden, falls die Regierung das Paket der IWF-Sparmaßnahmen nicht zurücknimmt. Er forderte auch, die Innenministerin María Paula Romo und den Verteidigungsminister Oswaldo Jarrín wegen "übermäßiger Gewalt" während der Proteste abzusetzen. Das sei als Zeichen des sozialen Friedens für das Land notwendig. Außerdem sollen alle im Rahmen der Auseinandersetzungen Verhafteten freigelassen werden.
Das erste Treffen führte zu der Übereinkunft, gemeinsam den Präsidentenerlass Nr. 883 zu überarbeiten. Es handelt sich dabei um ein Paket der vom IWF geforderten Sparmaßnahmen.
Sparmaßnahmen lösen größte Proteste der Geschichte aus
Moreno, der neoliberale Präsident von Ecuador, stellte vor kurzem die Subventionen des Benzinpreises ein, um einen IWF-Kredit von 4,2 Milliarden Dollar zu erhalten. Daraufhin stieg der Preis um 123 Prozent an. Das löste die größten Massenproteste in der Geschichte Ecuadors aus.
Moreno hat nun seine kompromisslose Haltung geändert. "Die Ergebnisse der Verhandlung können in einem neuen Erlass Eingang finden, der den vorherigen ersetzt", sicherte er vor laufenden Kameras zu. Der Präsident beteuerte, es sei "noch nie meine Absicht (gewesen), die ärmsten Schichten zu benachteiligen."
Damit ist die bisherige Forderung der Protestbewegung, den Präsidentenerlass 883 komplett fallen zu lassen, zumindest formal erfüllt. Das reale Verhandlungsergebnis muss sich erst noch zeigen.
Die UN-Vertretung in Ecuador teilte in Bezug auf das nächste Treffen mit, dass der Termin der kommenden Dialogrunde über Fernsehen bekannt gegeben werde. Offen blieb, ob die Bevölkerung auch die weiteren Gespräche live im Fernsehen mitverfolgen kann.
Indessen feierte die Bevölkerung begeistert den Erfolg ihres Kampfes auf den Straßen und Plätzen des Landes. Es kam sogar zu Verbrüderungsszenen zwischen Demonstranten und der Polizei.
Die Vorgeschichte des Dialogs
Unter dem früheren Präsidenten Rafael Correa diente ein Teil der Devisen aus den Ölvorkommen des Landes dazu, den Inlandspreis für Kraftstoff zu subventionieren und damit die Kaufkraft der sozial Schwachen und den Binnenmarkt zu stärken. Es war eine Umverteilung von Staatseinkünften an die Bevölkerung.
Unter Correas Nachfolger Lenín Moreno kam eine neoliberale Wirtschaftspolitik zum Zuge, die in erster Linie der Unternehmerseite nützte. Während Moreno den ecuadorianischen Großbetrieben Steuerschulden in Höhe von 2,3 Milliarden US-Dollar erließ, schossen nach der Benzinverteuerung die Transportkosten und die Preise der Lebensmittel und des täglichen Bedarfs in die Höhe.
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Seit Anfang Oktober entwickelte sich der anfängliche Protest über vereinzelte Straßenblockaden, einem Streik der Transportarbeiter und Demonstrationen in zahlreichen Städten zu einem Volksaufstand im ganzen Land. Gewerkschaften, Studentenorganisationen, die Frauenbewegung, Künstler, Arbeiter, Bauern und Arbeitslose beteiligten sich an dem Protest.
Die Rolle der Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors (CONAIE)
Doch vor allem die mächtige Indigenenorganisation CONAIE erreichte schnell eine massenhafte Mobilisierung. Sie repräsentiert zehn indigene Nationen und damit 25 Prozent der Bevölkerung. In der Regierungszeit von Rafael Correa konnte sie ein multiethnisches und multikulturelles Staatssystem mit autonomen Rechten durchsetzen.
Tausende Angehörige der zehn Indianernationen kamen mit Lastwagen, in Bussen oder zu Fuß aus den ländlichen Gebieten, mit Streitäxten und Speeren bewaffnet, in die Städte. Polizei und Armee versuchten, die Zufahrtsstraßen der Hauptstadt Quito zu sperren, doch sie mussten dem Druck der Bevölkerung weichen.
Der Regierungssitz in Quito wurde regelrecht belagert, das Parlament vorübergehend besetzt. Seit Beginn des Monats waren Tausende Tag und Nacht auf den Straßen, sie veranlassten schließlich den Präsidenten samt Kabinett zur vorübergehenden Flucht aus der Hauptstadt nach Guayaquil, der zweitgrößten Stadt Ecuadors. Aus der Ferne rief Moreno dann den Ausnahmezustand aus und verhängte ein nächtliches Ausgehverbot. Die Menschen blieben dennoch auf den Straßen und antworteten mit tausendfachem nächtlichen Töpfeschlagen.
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Die CONAIE gab im Verlauf der Aktionen bekannt, dass sich Provokateure in die Reihen der friedlichen Demonstranten gemischt hätten, Steine warfen, Barrikaden bauten, Reifen anzündeten und den Rechnungshof in Brand setzten.
Andererseits besetzten Protestierende einige Öl-Förderanlagen im Amazonasgebiet, die Lieferungen Ecuadors ins Ausland wurden unterbrochen. Die wichtigste Deviseneinnahme des Landes war dadurch gefährdet.
Die staatliche Repression
Der von der Regierung befohlene Ausnahmezustand ermöglichte es, das Militär gegen die Bevölkerung einzusetzen. Die Sicherheitskräfte müssen in diesem Fall keine Rechenschaft über Verletzte und Tote ablegen.
Die staatlichen Maßnahmen waren brutal, Wasserwerfer und Tränengas kamen massiv zum Einsatz. Inzwischen sind über eintausend Menschen verhaftet, es gibt mehrere Verschwundene, über 1.300 Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Im Rahmen der Straßenkämpfe starben sieben Menschen, darunter ein Kleinkind. Ein Demonstrant wurde offenbar von einem Scharfschützen erschossen. Die Polizei setzte in dem so genannten "humanitären Korridor", der als Zufluchtsort für Kinder, Frauen und ältere Menschen auf dem Gelände zweier Universitäten errichtet wurde, Tränengas ein.
Das Internationale Rote Kreuz gab am Freitag bekannt, dass es seine Aktivitäten auf dem gesamten ecuadorianischen Territorium wegen fehlender Garantien eingestellt hat. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission und andere internationale Organisationen kritisierten die exzessive Gewalt der Sicherheitskräfte.
"Blut klebt an den Händen Morenos", riefen die Demonstranten. Die Forderungen nach seinem Rücktritt wurden lauter.
Nach der Rückkehr der Regierung in die Hauptstadt Quito am vergangenen Freitag zeigte sie sich verhandlungsbereit. Doch die CONAIE wies ein erstes Gesprächsangebot zurück. Sie forderte kompromisslos die Rücknahme der Regierungsverordnung 883 über das Gesamtpaket neoliberaler Wirtschaftsmaßnahmen.
Welche Inhalte und Ziele vertritt die bedeutende Indigenenorganisation?
Die Konföderation ist die größte ihrer Art in Ecuador und eine der mächtigsten in Lateinamerika. Sie wurde 1986 gegründet und war schon immer eine Speerspitze gegen neoliberale, rechts-konservative Wirtschafts- und Gesellschaftskonzepte.
Die CONAIE fordert, das gesamte Abkommen mit dem IWF zu widerrufen, die Privatisierungen rückgängig zu machen und die Ölförderungen in umstrittenen Indianer- oder Naturschutzgebieten einzustellen.
Sie stellte einen plurinationalen Plan zur Verteidigung der Souveränität indigener Nationalitäten vor. Die eigene indianische Rechtsprechung soll anerkannt werden, ein zweisprachiger Unterricht generell stattfinden. Man tritt für die bäuerliche Familienwirtschaft, für Arbeits- und Gewerkschaftsrechte, für Frauenrechte, für die Verteidigung des öffentlichen Gesundheitswesens und generell für die Menschenrechte sowie für die Freiheit der alternativen Pressemedien ein.
Das in Lateinamerika vorherrschende Modell der Rohstoffwirtschaft, bei dem sich die eigene nationale Produktion nur unzureichend entwickelt, wirkt sich nachteilig auf das Leben in indigenen Territorien und Gemeinschaften aus. Oft sind die traditionellen indigenen Landbesitzer der betroffenen Zonen schwerer Repression ausgesetzt, werden vertrieben, ausgehungert oder gar ermordet. Beispiele dafür sind vor allem in Kolumbien, Brasilien und Mexiko zu finden.
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