von Maria Müller
Auch 500 Jahre nach der europäischen Militärinvasion in Amerika geht der Genozid an den Ureinwohnern des Kontinents weiter. Niemand spricht vom Holocaust an den Indianervölkern Amerikas. Die "Nationale Indianerorganisation Kolumbiens" (ONIC) schlug vor wenigen Wochen Alarm. Sie warnte vor der Gefahr, dass eine Reihe von ethnischen Gruppen vom Aussterben bedroht ist.
Besonders tragisch ist die Situation des kolumbianischen Wayuu-Volkes mit 5.000 an chronischer Unterernährung gestorbenen Kleinkindern. Hunger, Mangelerkrankungen und fehlende ärztliche Versorgung haben auch bei fast 100 Indianerinnen während der Schwangerschaft zum Tod geführt.
Der größte Kohletagebau der Welt
Die größte indigene Nation Kolumbiens, die Wayuu (insgesamt etwa 800.000), sind auf der kolumbianischen Halbinsel La Guajira vom Aussterben bedroht. Der Fluss Ranchería, die Lebensader der Gegend, wurde im Rahmen des Kohlebergbaus aufgestaut und umgeleitet. Das früher von den Wayuu landwirtschaftlich genutzte Gebiet ist heute eine dürre Einöde. Die Menschen haben keinen Zugang zu Trinkwasser. Man hat ihnen den Fluss geraubt, wie sie sagen.
Die kolumbianische Firma "El Cerrejón", Betreiberin des größten Steinkohletagebaus der Welt, liefert in großem Umfang an deutsche Energieunternehmen. Darunter Firmen wie Eon, RWE, die Steag oder Thyssenkrupp. Sie kaufen zwei Drittel ihres Bedarfs in Kolumbien ein. Die deutsche Abhängigkeit kennt keine Menschenrechte.
Humanitäre Katastrophe in Kolumbien
Laut Behörden sind zwischen 2008 und 2016 über 5.000 Kinder an Unterernährung, Wassermangel und fehlender medizinischer Versorgung gestorben. Doch nach Angaben des Wayuu-Sprechers Armando Valbuena ist die Zahl weit höher, da mehr als die Hälfte der Geburten und Todesfälle nicht amtlich registriert ist. Er spricht von 14.000 Todesfällen. Über 37.000 indigene Kinder leiden an Unterernährung. Eine Tuberkulose-Epidemie macht sich breit.
Die Abraumhalden der Kohleförderung geben giftige Schwermetalle wie Merkurium, Arsen, Blei und Zink an die Umwelt ab. Der giftige Staub kontaminiert die Luft, reichert Pflanzen und Böden an und setzt sich in den Lungen der Menschen und Tiere fest. Krankheiten der Atemwege, vor allem Asthma, aber auch Krebs breiteten sich aus. Regenwasser spült die Gifte in das Wasser des Stausees. Es gab Todesfälle aufgrund der Umweltvergiftung. Verschiedene Gemeinden wurden umgesiedelt und dann ihrem Schicksal überlassen, ohne Land und Arbeit.
Keine Investitionen für die Menschen
Es fehlt an Nahrungsmitteln und an einer minimalen Grundversorgung wie Elektrizität, Wasserleitungen, Medizin und Erziehung. Weder der Staat noch die Bergbaufirma El Cerrejón investieren in Infrastruktur für die Bevölkerung, obwohl die Halbinsel in den letzten 20 Jahren mehr als eine Milliarde Dollar an Lizenzgebühren für ihre natürlichen Ressourcen (Kohle und Gas) erhalten hat.
Laut Regierungsangaben werden jährliche Zuschüsse für El Guajira bereitgestellt, doch das meiste Geld verschwindet im Korruptionsdickicht der lokalen Verwaltung.
OAS in Kolumbien machtlos?
Die Indianer klagten vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit Sitz in Washington. Sie forderten, dass ihre grundlegenden Lebensrechte geschützt werden müssen. Vor allem sollten die Schleusen des Staudamms "El Cercado" sofort geöffnet werden, damit das Flusswasser des Rancherío den Indigenen wieder zur Verfügung steht.
Die OAS-Kommission reagierte mit einer zweimaligen Aufforderung an die kolumbianische Regierung. Doch die Lage hat sich nicht verändert.
Das manipulierte Narrativ vom humanitären Notstand
Das Thema stellt das politische Narrativ vom ausschließlich in Venezuela vorherrschenden humanitären Notstand in Frage. Denn chronische Unterernährung, fehlende ärztliche Versorgung, Mangel an Medikamenten und der Raub von Wasser und Land der Ureinwohner und Kleinbauern gibt es in den meisten Staaten Lateinamerikas. Ganz zu schweigen von Hunderten von Morden an Umwelt-, Menschenrechts- und Friedensaktivisten, an Journalisten und Kandidaten für politische Ämter.
Die im Jahr 2007 von der UNO verabschiedete "Erklärung über die universellen Menschenrechte der indigenen Völker" verpflichtet die Hohe Kommissarin Michelle Bachelet besonders, diese Menschenrechtsverletzungen an der Indianerbevölkerung Kolumbiens genau zu untersuchen und anzuprangern. Auch die "Amerikanische Erklärung über die Rechte der indigenen Völker" der OAS aus dem Jahr 2016 stellt die speziellen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rechte der Ureinwohner in den Vordergrund.
Zensur im UNO-Bericht 2018 über Kolumbien
Doch der UNO-Bericht 2018 des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte unter Bachelet verschweigt vollständig das Drama der Wayuu! Wohingegen die Internationale Kommission für Menschenrechte der OAS zuvor schon mehrfach die kolumbianische Regierung aufgefordert hat, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die humanitäre Katastrophe der Wayuu-Indianer zu überwinden.
Kolumbiens Regierungen wurden trotz der von ihnen zu verantwortenden extremen Menschenrechtsverletzungen noch nie von der "internationalen Gemeinschaft" kritisiert oder gar sanktioniert. Im Gegenteil: Westliche Medien und Politiker bemühen sich seit jeher, die schweren Verbrechen auf kolumbianischem Boden mit ihrer extrem hohen Dunkelziffer und Straflosigkeit (86,85 Prozent laut UNO) komplizenhaft zu vertuschen.
Kolumbiens Wahlen von niedriger demokratischer Qualität
Kolumbiens Wahlen werden immer wieder fraglos auch von der Bundesregierung anerkannt, obwohl im UNO-Bericht aus dem Jahr 2018 viele technischen Mängel des elektronischen Systems und Manipulationen in den Wahllokalen festgehalten wurden.
Doch den Rekord schlägt die Tatsache, dass mehrere Millionen Bürger (von 36 Millionen Wahlberechtigten) von den Wahlen ausgeschlossen sind. Nur wenige Wahlposten dringen in die abgelegenen Randgebiete des Landes vor, obwohl die kolumbianischen Streitkräfte über zahlreiche moderne Hubschrauber verfügen, die mobile Wahllokale in diese Zonen transportieren könnten. Hier leben überwiegend die indianischen Ethnien und afrikanischstämmige Landgemeinden. Aufgrund ihrer Diskriminierung hätten ihre Stimmen sicher ein politisches Gewicht gegenüber den dominierenden rechten Parteien.
In ihrem 124 Seiten starken Bericht der OAS über den Wahlprozess 2018 und seine Mängel widmet die Organisation unter Punkt 5.11 eine halbe Seite dem Problem der Millionen Ausgeschlossenen, ohne allerdings konkrete Ziffern zu nennen (die sonst nirgendwo fehlen). Mit einigen Verbesserungsvorschlägen räumt man zwar indirekt die Verletzungen des Wahlrechts ein, jedoch ohne sie zu kritisieren. Die demokratische Qualität der Wahlen wird nicht in Frage gestellt.
Millionen Bürger sind nicht dokumentiert
Der kolumbianische Staat kommt seit Jahrzehnten seiner Pflicht nicht nach, die Bürger des Landes amtlich zu registrieren und mit Ausweisen zu versehen. Auch unter den 7,4 Millionen Binnenflüchtlingen sind viele nicht dokumentiert und können nicht wählen. Das universelle Wahlrecht, eines der Grundrechte der Menschheit, wird in Kolumbien vor allem gegenüber der indigenen Bevölkerung auch heute noch massiv verletzt. Hörte man jemals eine Kritik der "internationalen Gemeinschaft" oder Forderungen nach freien, demokratischen Wahlen wie in Venezuela?
Indianerorganisationen in Kolumbien warnen vor Genozid
Anfang August erklärt die Nationale Indigenenorganisation Kolumbiens (ONIC) auf einer Pressekonferenz den "humanitären, sozialen und wirtschaftlichen Notstand der indigenen Völker Kolumbiens".
In den Monaten davor befanden sich die Indigenen und afrikanischstämmigen Nationen und Gruppen im ganzen Land in einer permanenten Ratsversammlung (Minga), um über die systematischen Aggressionen wie Morde, Drohungen, Einschüchterungen und Vertreibungen zu sprechen. In dieser Zeit wurden selbst Teilnehmer der Versammlungen getötet. Im Protestschreiben von ONIC heißt es:
Seit der Unterschrift unter den Friedensvertrag wurden über 750 Gemeindeführer, Menschenrechtler, Bauernvertreter, Friedensaktivisten und Sprecher von sozialen und politischen Organisationen ermordet. Davon gehörten 45 Prozent den Ethnien Kolumbiens an. Darunter sind 158 Indigene.
Und weiter:
In Kolumbien gibt es 102 indigene Völker, bei 70 existiert ein schweres Risiko, physisch und kulturell zu verschwinden. Davon sind 39 Volksgruppen besonders akut gefährdet. Es handelt sich speziell um die Völker Siona, Nasa, Wayuu, Hitnu, Wamonaes, Sikuani, Mapayerri, Sália, Piapoco und andere.
Transnationale Konzerne auf dem Durchmarsch
Sie kritisieren zudem den Entwicklungsplan für Kolumbien unter der Regierung Iván Duques, in dem vor allem die transnationalen Konzerne bevorteilt werden. Sie eignen sich die natürlichen Ressourcen des Landes an, ohne Rücksicht auf die Grund- und Landrechte der dort lebenden Bürger Kolumbiens. Zum Nachteil der indigenen Völker, die hinsichtlich dieser Großprojekte und deren Umweltfolgen meist kein Mitsprachrecht haben – unter Missachtung des internationalen Rechts.
Am 13. August forderte die Indianerorganisation CRIC das Einschreiten der UNO und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS).
Ebenfalls Anfang August präsentierte das Solidaritätskomitee für die politischen Gefangenen in Kolumbien und das Rechtsanwaltskollektiv José Alvear Restrepo einen Bericht über die getarnten Hinrichtungen durch das Militär in der Regierungszeit des heutigen Senators Álvaro Uribe (2000-2010). Demnach waren unter den 6.863 dokumentierten Hinrichtungen 300 Mitglieder der indigenen Ethnien (Wiwa, Wayuu und Kankuamo).
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