Wenn der US-Durchschnittsbürger und Konsument sogenannter Mainstreammedien an Guatemala, Honduras und El Salvador denkt, kommen ihm, wenn überhaupt, hauptsächlich die Begriffe Armut, Drogenhandel und Bandenkriminalität in den Sinn. Unfähige Regierungen, die bestenfalls nur halbwegs funktionsfähig sind, dürften das Bild vervollständigen. Diese Wahrnehmung erfüllt zwar ihre Funktion, doch lenkt sie von den wichtigen Fragen nach den Ursachen für die Fluchtbewegungen ab.
Eine dieser Fragen lautet: Wenn die genannten Länder so extrem arm und rückständig sind, warum sind vorrangig US-Anleiheninvestoren bereit, Guatemala, Honduras und El Salvador Kredite zu Zinssätzen zu gewähren, die den Vorzugskonditionen regionaler Wirtschaftsmächte wie Brasilien oder Mexiko entsprechen? Die Antwort ist genauso banal wie vielsagend, denn alle drei Staaten gelten den Kreditgebern als stabile, ja sogar sichere Investitionsziele. Schließlich investieren diese drei Länder selbst fast nichts in staatliche Dienstleistungen für ihre Bürger. Ein sicheres Geschäft also – auf Kosten der Armen.
Trotzdem, aktuell geht die Rechnung nicht auf, denn die Ländergruppe kam in den vergangenen zwei Jahren ohne die Ausgabe einer einzigen Anleihe aus. Die fiskalische Sparpolitik wurde in dieser Zeit für die mittelamerikanischen Länder "fast wie eine Religion". Selbst der Internationale Währungsfond (IWF), also die Institution, die seit Jahrzehnten dafür kritisiert wird, im Namen fiskalischer "Strukturanpassungen" das Zusammenstreichen von Sozialausgaben zu fordern, sah sich zwischenzeitlich genötigt, etwa Guatemala dazu aufzufordern, doch bitte wieder mehr Geld auszugeben. Doch warum Geld in die Hand nehmen, wenn sich die sozialen Daumenschrauben immer noch ein Stück weiter anziehen lassen? Auch die Korruption spielt selbstverständlich eine tragende Rolle in diesem in sich geschlossenen System, und es besteht offenbar kein Bedürfnis, sich tiefer in die Karten schauen zu lassen.
Der Mangel an staatlichen sozialen Dienstleistungen und gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten befördert wiederum die Auswanderung der ärmsten Bevölkerungsschichten. Und während man mit dem Finger auf das vermeintlich "gescheiterte sozialistische Experiment" in Venezuela zeigt, wird im Mainstream kaum ein Wort über die gescheiterten neoliberalen Experimente Mittelamerikas verloren, die in etlichen Staatsstreichen im Namen der "Freiheit" heimgesucht wurden.
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Das System der Auswanderung wird dadurch befördert, dass die wachsenden Überweisungszahlungen der zumeist illegalen Wanderarbeiter in den USA an ihre Familien in den mittelamerikanischen Ländern eine wachsende Rolle für die dortigen Volkswirtschaften spielen.
Der Wert ist etwa 30-mal höher als die Hilfsgelder, die ein frustrierter Trump den Ländern diese Woche entzog", heißt es dazu in einer Bloomberg-Analyse.
Vereinfacht dargestellt, erhält man im Ergebnis ein Wirtschaftsmodell, das mit einem ganz eigenen Exportschlager aufwartet – die eigene, wohl gemerkt arme Bevölkerung.
Migration ist Teil des Modells. Ein Land hat vielleicht kein großes Defizit, aber gleichzeitig werden die Bedürfnisse seiner Bevölkerung nicht erfüllt," erläutert Seynabou Sakho, Direktor der Weltbank für Zentralamerika.
Die spezielle Haushaltsdisziplin geht demzufolge selbst der Weltbank zu weit, also der Finanzinstitution, die neben dem IWF auch von sogenannten Entwicklungsländern diese Disziplin ein ums andere Mal, insbesondere auf Kosten der armen Bevölkerungsschichten, verlangt.
Hinzu kommen etwa im Fall von Guatemala Steuersätze, die zu den weltweit niedrigsten gehören. Der Präsident des Landes, Jimmy Morales, unternahm einen Anlauf, die Steuersätze zu erhöhen, um staatliche Investitionen anzukurbeln.
Doch die Geschäftswelt mobilisierte sich, um den Plan zu zerstören", heißt es bei Zero Hedge.
Laut aktuellen Zahlen der Zeitung Prensa Libre leben 59,3 Prozent der guatemaltekischen Bevölkerung in Armut und 23,4 Prozent in extremer Armut. 46,5 Prozent der Bevölkerung sind chronisch unterernährt. Bei Kindern unter fünf Jahren weist das Land den höchsten Wert in Lateinamerika auf, gefolgt von Honduras mit 22 Prozent. Für die indigene Bevölkerungsschicht sind die Zahlen noch düsterer. Bis zu 80 Prozent sind mangelernährt.
Die politische und wirtschaftliche Macht wird im Land vor allem von Großgrundbesitzern, Militärs und Großunternehmern kontrolliert – bislang stets mit dem Segen Washingtons.
Vor wenigen Tagen fanden Wahlen in Guatemala statt. Für die Präsidentschaft bewarben sich Sandra Torres, Siegerin des ersten Wahlgangs, und Alejandro Giammattei. Torres erhielt am vergangenen Sonntag 25,6 Prozent der Stimmen, auf Giammattei entfielen 13,9 Prozent. Die zweite Runde der Abstimmung findet am 11. August statt.
Beide Kandidaten gehören zu der etablierten Politelite des mittelamerikanischen Landes. Eine Reformagenda ist nach Einschätzung der lateinamerikanischen Presse weder von Torres noch von Giammattei zu erwarten, heißt es bei Amerika 21.
Aber ohne Strukturreformen gibt es wenig Hoffnung auf einen echten, dauerhaften Wandel an der Einwanderungsfront.
Die Einwanderung ist ein Symptom für die Krankheiten, die wir haben: Gewalt, mangelndes Wirtschaftswachstum, mangelnde Investitionen in allen ländlichen Gebieten", erklärte Nayib Bukele, seit dem 1. Juni 2019 Präsident von El Salvador.
Seiner Ansicht nach verlassen die Menschen "ihre Familien und ihr Land nicht, um drei Grenzen und eine Wüste zu überschreiten, weil alles in Ordnung ist."
Doch Washington scheint nicht an der Bekämpfung der Ursachen interessiert. Es sind vor allem die Symptome, die man zu bekämpfen gedenkt. So entsendete das Washingtoner Department of Homeland Security zuletzt ein Kontingent von Mitarbeitern an die mittelamerikanische "Front", um gemeinsam mit den dortigen Regierungen den Zustrom von Menschen an die US-Grenze unter Kontrolle zu bringen.
Zuletzt setzte US-Präsident Donald Trump die Auszahlung Hunderter Millionen US-Dollar sogenannter Hilfsgelder für Honduras, Guatemala und El Salvador aus. Nach Ansicht der US-Regierung tun die drei mittelamerikanischen Länder nicht genug, um den Zustrom illegaler Einwanderer in die USA einzudämmen.
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